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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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dass die nun zu feiernde nikka von der traditionellen Form abweichen werde.
    »Wenn ich richtig verstanden habe, wird der Bus nach Kabul schon bald abfahren. Weil also die Zeit drängt, empfiehlt es sich, den Ablauf zu verkürzen.«
    Der Mullah zitierte ein paar Segenssprüche, sagte einige Worte zur Bedeutung der Ehe und fragte Jalil, ob er Einwände gegen diese Verbindung habe. Jalil schüttelte den Kopf. Daraufhin fragte der Mullah den Bräutigam, ob er wahrhaftig wünsche, die Ehe mit Mariam einzugehen. Raschid sagte: »Ja.« Seine Stimme erinnerte Mariam an das Geräusch trockener Laubblätter, die unter Füßen zertreten werden.
    »Und willst du, Mariam jan , diesen Mann als deinen Gatten annehmen?«
    Mariam schwieg. Jemand räusperte sich.
    »Sie will«, sagte eine Frauenstimme.
    »Das muss sie schon selbst sagen«, bemerkte der Mullah. »Und zwar erst nachdem ich dreimal gefragt habe. Schließlich wirbt er um sie und nicht umgekehrt.«
    Er stellte die Frage zwei weitere Male. Als Mariam auch dann nicht antwortete, wiederholte er die Frage, nachdrücklicher diesmal. Mariam spürte, wie Jalil auf seinem Stuhl unruhig wurde und mit den Füßen scharrte. Wieder räusperte sich jemand. Eine kleine weiße Hand fuhr über den Tisch und wischte ein Staubkörnchen weg.
    »Mariam«, flüsterte Jalil.
    »Ja«, sagte sie kleinlaut.
    Der Spiegel wurde ihr unter den Schleier gehalten. Mariam sah ihr Gesicht darin, die Augenbrauen, denen es an Schwung mangelte, das spröde Haar, die viel zu eng stehenden, freudlosen Augen, von denen man annehmen mochte, dass sie schielten. Sie fand ihre Stirn zu breit, das Kinn zu schmal, die Lippen zu dünn. Ihr Gesicht war ein in die Länge gezogenes Dreieck, fast wie das eines Hundes. Und doch, trotz all dieser wenig vorteilhaften Merkmale, erkannte Mariam, dass sie nicht unansehnlich war.
    Im Spiegel erhaschte Mariam dann auch einen ersten Blick von Raschid: das kantige, grobschlächtige Gesicht, die gebogene Nase, gerötete Wangen, die den Eindruck durchtriebener Heiterkeit vermittelten; wässrige, gerötete Augen; Schneidezähne, die wie ein Dachgiebel gespreizt waren; der unglaublich tiefe Haaransatz, kaum zwei Fingerbreit über den buschigen Augenbrauen; das dichte, krause, graumelierte Haar.
    Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke im Spiegel.
    Das Gesicht meines Mannes, dachte Mariam.
    Sie tauschten die schmalen Goldringe, die Raschid aus seiner Jackentasche gefischt hatte. Seine Fingernägel waren gelblich braun wie das Innere eines faulen Apfels und an den Rändern leicht nach oben gebogen. Mit zitternden Händen versuchte Mariam, den Ring über seinen Finger zu schieben. Er musste ihr dabei helfen. Der für sie bestimmte Ring war ein wenig zu eng, doch hatte Raschid wenig Mühe, ihn über ihre Knöchel zu zwingen.
    »Da«, sagte er.
    »Ein schöner Ring«, sagte eine der Frauen. »Sehr hübsch, Mariam.«
    »Jetzt wäre nur noch der Ehevertrag zu unterzeichnen«, erklärte der Mullah.
    Unter aller Augen buchstabierte Mariam ihren Namen – meem , reh , ya , meem . Als sie ein zweites Mal ihren Namen unter ein Dokument setzen sollte, siebenundzwanzig Jahre später, war wieder ein Mullah anwesend.
    »Ihr seid nun Mann und Frau«, sagte der Mullah. » Tabreek . Glückwunsch.«
    Raschid saß schon in dem bunt bemalten Bus. Mariam stand mit Jalil neben der hinteren Stoßstange und sah von ihrem Mann nur den Zigarettenrauch, der durch das geöffnete Fenster aufstieg. Ringsum wurden Hände geschüttelt und Abschiedsgrüße ausgetauscht, Koran-Bücher geküsst und weitergereicht. Barfüßige Jungen sprangen umher, die Gesichter verdeckt von Holzplatten, auf denen sie den Reisenden Kaugummis und Zigaretten zum Verkauf anboten.
    Jalil legte Wert auf die Feststellung, Kabul sei eine so schöne Stadt, dass der Großmogul Babur darum gebeten hatte, dort bestattet zu werden. Mariam wusste schon im Voraus, dass er auch auf die Gärten Kabuls zu sprechen käme, auf die Geschäfte, die vielen Bäume und die frische Luft, und dann, wenn sie im Bus säße, würde er noch winkend ein paar Schritte nebenherlaufen, heiter, unbeschadet und erleichtert.
    Dazu wollte es Mariam nicht kommen lassen.
    »Ich habe dich verehrt«, sagte sie und unterbrach ihn mitten im Satz.
    Jalil verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie wieder herabfallen. Ein junges Hindi-Paar drängte sich zwischen sie; die Frau trug einen Säugling im Arm, der Mann schleppte einen Koffer. Jalil schien dankbar für die

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