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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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in dem sie und Raschid wohnten und wo die Burka gebräuchlich war, schienen die Frauen in diesem Teil Kabuls aus einer gänzlich anderen Welt zu stammen. Sie waren … Welches Wort hatte Raschid verwendet? Modern. Ja, es waren moderne afghanische Frauen, verheiratet mit modernen afghanischen Männern, denen es nichts ausmachte, dass sich ihre Frauen mit geschminkten Gesichtern und barhäuptig in der Öffentlichkeit zeigten. Sie flanierten ganz unbefangen die Straße entlang, ob mit oder ohne Mann an ihrer Seite. Manche waren in Begleitung von Kindern mit rosigen Wangen, blank geputzten Schuhen und Armbanduhren. Sie schoben Fahrräder mit hochgezogener Lenkstange und gold lackierten Speichen – so ganz anders als die Kinder in Deh-Mazang, deren Gesichter von Sandmücken zerstochen waren und die mit Stöcken verbeulte Fahrradfelgen vor sich hertrieben.
    All diese Frauen hier trugen Handtaschen und raschelnde Röcke. Mariam sah sogar eine, die hinter dem Steuer eines Autos saß und rauchte. Die Fingernägel dieser Frauen waren lang, rosa oder orangefarben lackiert, die Lippen so rot wie Tulpen. Sie stolzierten auf hohen Absätzen und mit schnellen Schritten, als ob sie immerzu dringliche Geschäfte zu erledigen hätten. Viele trugen dunkle Sonnenbrillen, und wenn sie vorbeirauschten, zogen sie eine Wolke von Parfüm hinter sich her. Mariam stellte sich vor, dass sie alle ein Diplom der Universität in der Tasche hatten, in einem der Bürohochhäuser arbeiteten, womöglich am eigenen Schreibtisch, wo sie Texte in eine Schreibmaschine tippten, rauchten oder wichtige Telefonate führten. Mariam war tief beeindruckt von ihnen. Gleichzeitig führten sie ihr aber auch die eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen, ihr schlichtes Aussehen, ihren Mangel an Ehrgeiz und ihre Unwissenheit in so vielen Dingen.
    Raschid tippte ihr auf die Schulter und reichte ihr etwas.
    »Hier.«
    Es war ein dunkelbrauner Seidenschal mit perlenverzierten Fransen und goldener Saumstickerei.
    »Gefällt er dir?«
    Mariam blickte zu Raschid auf und war von seiner Reaktion gerührt. Er blinzelte und wich ihrem Blick aus.
    Sie dachte an Jalil und die auftrumpfende Art, mit der er sie immer beschenkt und so sehr eingeschüchtert hatte, dass sie nur ein zaghaftes Danke hervorbringen konnte. Nana hatte recht, was Jalils Geschenke anging. Sie waren halbherzige Zeichen von Reue, unaufrichtige Gesten, mit denen er weniger ihr als sich selbst einen Gefallen zu tun und Abbitte zu leisten versuchte. Dieser Schal dagegen war ein wahres Geschenk.
    »Er ist wunderschön«, sagte sie.
    Am Abend desselben Tages besuchte Raschid sie wieder in ihrem Zimmer. Aber anstatt im Türrahmen stehen zu bleiben und zu rauchen, kam er herein und setzte sich zu ihr aufs Bett. Die Federn knarrten, und das Gestell neigte sich unter seinem Gewicht.
    Er zögerte einen Moment, schob ihr dann seine Hand in den Nacken und fuhr mit seinen fleischigen Fingern über ihre Halswirbel. Mit dem Daumen strich er über das Schlüsselbein, die Höhlung darüber. Mariam fing zu zittern an. Die Hand drängte tiefer. Die schartigen Fingernägel verhakten sich im Baumwollstoff ihrer Bluse.
    »Ich kann nicht«, krächzte sie und starrte in sein vom Mondlicht beschienenes Gesicht, auf die massigen Schultern, die breite Brust und das aus dem Kragenausschnitt wuchernde dichte graue Haar.
    Seine Hand lag jetzt auf ihrer rechten Brust und drückte zu. Sie hörte ihn tief durch die Nase einatmen.
    Er schlüpfte zu ihr unter die Decke. Sie spürte, wie er sich zuerst am eigenen Gürtel und dann an der Kordel ihrer Hose zu schaffen machte. Sie selbst verkrallte die Finger im Laken. Er wälzte sich auf sie, rutschte hin und her. Mariam schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander.
    Der Schmerz kam plötzlich und überraschend heftig. Sie riss die Augen auf, schnappte nach Luft und biss sich auf den Knöchel des Daumens. Sie schlug mit dem freien Arm aus, bekam Raschids Hemd am Rücken zu fassen und zerrte daran.
    Raschid hatte sein Gesicht in ihrem Kissen vergraben, während Mariam mit weit aufgesperrten Augen an seiner Schulter vorbei an die Decke starrte, seinen heißen Atem im Nacken spürte und am ganzen Körper zitterte. Die Luft zwischen ihnen roch nach Tabak, Zwiebeln und dem gegrillten Lammfleisch, das sie zum Abend gegessen hatten. Als seine Wange ihre Ohrmuschel streifte, bemerkte sie, dass er sich rasiert hatte.
    Als es vorbei war, ließ er keuchend von ihr ab, wälzte sich zur Seite und legte den

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