Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
Vom Netzwerk:
hatten überhaupt nichts an, lagen zwischen zerwühlten Laken und schauten Mariam aus halb geschlossenen Augen an. Auf den meisten Bildern hielten sie die Beine gespreizt und zeigten die dunkle Stelle dazwischen. Manche Frauen knieten am Boden wie – Gott möge ihr den Gedanken verzeihen – in sujda zum Gebet. Sie warfen einen Blick über die Schulter, der gelangweilte Verachtung verriet.
    Schnell legte Mariam das Heft zurück. Sie fühlte sich wie benommen. Wer waren diese Frauen? Wie hatten sie es zulassen können, solchermaßen fotografiert zu werden? Vor lauter Ekel rebellierte ihr Magen. Schaute sich Raschid diese Bilder an, wenn er nachts zu Bett ging? Fand er sie selbst in dieser Hinsicht so enttäuschend? Und was sollte all dieses Gerede von Ehre und Anstand? Wieso rümpfte er die Nase über weibliche Kunden, die doch nur ihre Füße entblößten, um passende Schuhe zu finden? »Das Gesicht einer Frau«, so hatte er gesagt, »ist einzig und allein Sache ihres Ehemannes.« Die Frauen auf diesen Seiten hatten doch gewiss auch Ehemänner, zumindest einige von ihnen. Oder Brüder. Wieso bestand Raschid darauf, dass sie, Mariam, sich verhüllte, wenn er doch offenbar kein Problem damit hatte, die intimsten Stellen von Frauen und Schwestern anderer Männer zu betrachten?
    Verwirrt und peinlich berührt setzte sich Mariam wieder auf sein Bett. Sie legte den Kopf in die Hände, machte die Augen zu und atmete langsam ein und aus, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.
    Allmählich fand sie zu einer Erklärung. Immerhin war er ein Mann, der jahrelang allein gelebt hatte. Er hatte andere Bedürfnisse als sie. Für sie waren seine nächtlichen Besuche in ihrem Bett nach wie vor eine Übung in stiller Duldsamkeit. Er dagegen empfand einen Heißhunger, der sich manchmal auf geradezu brutale Weise äußerte, wenn er sie gepackt hielt, ihre Brüste knetete und wie wild mit den Hüften zustieß. Er war ein Mann, der jahrelang auf eine Frau hatte verzichten müssen. Konnte sie ihm vorwerfen, so zu sein, wie er von Gott erschaffen worden war?
    Mariam wusste, dass sie darüber nie mit ihm würde reden können. Ausgeschlossen. Aber war es wirklich unverzeihlich? Sie brauchte sich bloß den anderen Mann in ihrem Leben vor Augen zu führen. Jalil hatte außereheliche Beziehungen zu Nana unterhalten, obwohl er Ehemann dreier Frauen und Vater von neun Kindern war. Was war schlimmer, Raschids Hefte oder Jalils Ehebruch? Und was überhaupt berechtigte sie, ein harami und Mädchen vom Lande, ein Urteil zu fällen?
    Mariam zog die untere Schublade der Kommode auf.
    Darin fand sie das Schwarzweißfoto eines vier- oder fünfjährigen Jungen mit gestreiftem Hemd und Fliege. Es war ein hübscher Junge; er hatte eine schmale Nase, braunes Haar und dunkle, tiefe Augen. Er wirkte abgelenkt und schien in dem Moment, da die Kamera ausgelöst wurde, auf etwas anderes aufmerksam gemacht worden zu sein.
    Darunter lag ein weiteres Foto, ebenfalls schwarzweiß, aber sehr viel körniger. Es zeigte eine sitzende Frau; hinter ihr stand, schlank und jung, Raschid mit schwarzem Haar. Die Frau war wunderschön, zweifelsfrei schöner als sie, Mariam. Sie hatte ein zartes Kinn und langes, in der Mitte gescheiteltes schwarzes Haar, hohe Wangenknochen und eine sanft geschwungene Stirn. Mariam dachte an ihr eigenes Aussehen, an die dünnen Lippen und das lange Kinn, und verspürte einen Anflug von Neid.
    Lange betrachtete sie das Foto. Es wirkte irgendwie beunruhigend, wie Raschid hinter der Frau aufragte und ihre Schultern mit beiden Händen gefasst hielt, er mit genüsslichem, schmallippigem Lächeln und sie mit ernster Miene, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, als versuchte sie, sich von ihm zu befreien.
    Mariam legte alles dahin zurück, wo sie es gefunden hatte.
    Als sie später die Wäsche machte, bereute sie, in seinem Zimmer herumgeschnüffelt zu haben. Wozu? Was hatte sie Neues über ihn in Erfahrung gebracht? Dass er eine Pistole besaß, dass er ein Mann mit den Bedürfnissen eines Mannes war? Außerdem hätte sie das Foto von ihm und seiner Frau nicht so lange anschauen sollen, geschweige denn einer Körperhaltung, zufällig festgehalten in einem kurzen Moment, über Gebühr Bedeutung beimessen dürfen.
    Während die voll behängte Wäscheleine vor ihr auf und ab wippte, empfand sie jetzt Mitleid für Raschid. Auch er hatte es nicht leicht gehabt in seinem Leben, das von Verlust und traurigen Schicksalswendungen geprägt war. Ihre Gedanken

Weitere Kostenlose Bücher