Tausend strahlende Sonnen
Vielleicht schon im Sommer. Kaum zu glauben, oder? Ehrlich, er geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.«
»Und was ist mit der Schule?« Auf Lailas Frage hatte Giti nur die Augen verdreht.
Von Hasina war früher des Öfteren zu hören gewesen: »Wenn wir, Giti und ich, zwanzig sind, hat jede von uns schon vier oder fünf Kinder geworfen. Und auf dich, Laila, werden wir zwei Strohköpfe einmal richtig stolz sein. Aus dir wird noch was. Ich bin mir sicher, irgendwann sehe ich eine Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite.«
Mit verträumtem, in sich gekehrtem Blick schnitt Giti Gurken klein.
Mami, die ihr duftiges Sommerkleid trug, pellte zusammen mit der Hebamme Wajma und Tariks Mutter gekochte Eier.
»Ich werde Kommandeur Massoud ein Foto von Ahmad und Noor zukommen lassen«, sagte sie zu Wajma. Wajma nickte und versuchte, ernsthaftes Interesse vorzutäuschen.
»Er hat persönlich für ihre Beisetzung gesorgt und an ihrem Grab ein Gebet gesprochen. Dafür möchte ich mich bedanken.« Mami schlug ein weiteres gekochtes Ei an. »Er soll ja, wie man hört, ein sehr nachdenklicher und ehrenwerter Mann sein. Ich glaube, er wird meine Geste zu schätzen wissen.«
Frauen schwirrten umher, holten Schalen mit qurma , Teller voll mastawa und Brot aus der Küche ab, die sie dann auf der am Boden des Wohnzimmers ausgebreiteten sofrah verteilten.
Ab und zu zeigte sich auch Tarik, um von den Speisen zu naschen.
»Hier werden keine Männer geduldet«, sagte Giti.
»Raus, raus!«, rief Wajma.
Tarik schmunzelte. Es schien ihm zu gefallen, nicht willkommen zu sein und die Frauenwirtschaft mit seinem männlich respektlosen Grinsen zu verärgern.
Laila tat ihr Bestes, ihn zu ignorieren, um den Frauen nicht noch mehr Stoff für Klatsch und Tratsch zu bieten. Also hielt sie den Blick gesenkt und sagte nichts, erinnerte sich aber an das, was sie vor einigen Nächten geträumt hatte: sein und ihr Gesicht im Spiegel hinter einem zarten grünen Schleier. Und Reiskörner, die, aus ihrem Haar fallend, mit einem kleinen Pling vom Glas abprallten.
Tarik langte mit einem Löffel in den Eintopf aus Kalbfleisch und Kartoffeln.
» Ho bacha! « Wajma klatschte ihm auf die Hand. Tarik stahl den Happen dennoch und lachte.
Er war inzwischen fast einen Kopf größer als Laila und musste sich rasieren. Die Gesichtszüge waren markanter geworden, die Schultern breiter. Er trug jetzt meist Bundfaltenhosen, schwarze, blank polierte Slipper und Hemden mit kurzen Ärmeln, um mit seinen Muskeln angeben zu können, die er tagtäglich mit zwei alten rostigen Hanteln im Hof trainierte. In letzter Zeit setzte er gern eine streitlustige Miene auf, neigte, wenn er sprach, den Kopf ein bisschen zur Seite und lupfte eine Braue, wenn er lachte. Auch das spöttische Grinsen war neu an ihm.
Tarik war kurz zuvor schon einmal aus der Küche verscheucht worden, und seine Mutter hatte Laila dabei ertappt, dass sie ihm einen heimlichen Blick zuwarf. Laila war zusammengezuckt und hatte sich schnell wieder darangemacht, die Gurkenstücke unter den gesalzenen Joghurt zu rühren. Sie spürte die Augen von Tariks Mutter auf sich gerichtet, ihr wissendes, wohlmeinendes Schmunzeln.
Die Männer gingen mit gefüllten Tellern und Gläsern zurück in den Hof. Nachdem sie versorgt waren, nahmen die Frauen und Kinder rund um die sofrah auf dem Fußboden Platz und fingen zu essen an.
Als später die sofrah wieder fortgeräumt und das Geschirr in die Küche gebracht worden war, als es nun galt, Tee zuzubereiten und sich daran zu erinnern, wer grünen beziehungsweise schwarzen Tee bevorzugte, nickte Tarik Laila mit dem Kopf zu und schlüpfte durch die Tür nach draußen.
Laila wartete fünf Minuten und folgte dann.
Sie fand ihn weiter unten auf der Straße, wo er neben der Mündung einer engen Gasse an der Mauer lehnte. Er summte ein altes paschtunisches Lied von Ustad Awal Mir:
Da ze ma ziba watan,
da ze ma dada watan.
Dies ist unser schönes Land,
dies ist unser geliebtes Land .
Und er rauchte – auch das eine neue Angewohnheit, die er von den Jungs übernommen hatte, mit denen er in letzter Zeit häufig zusammen war. Laila konnte sie nicht leiden, seine neuen Freunde. Sie alle trugen Bundfaltenhosen und enge Hemden, die ihre Schultern und Arme betonten. Außerdem rochen alle nach Eau de Cologne. Und sie rauchten, ausnahmslos. In Gruppen stolzierten sie durch die Nachbarschaft, alberten herum, lachten laut und riefen den Mädchen nach, wobei sie samt und sonders das
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