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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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einweichen ließ, saß ihr der Groll wie ein Knoten im Magen.
    Es waren nicht so sehr seine Lügen oder sein geheucheltes Mitgefühl, ja nicht einmal die Tatsache, dass er sie, die eigene Frau, wie eine Fremde behandelte, seit er das Mädchen aus den Trümmern gezogen hatte.
    Es war vielmehr dieses Schauspiel, das er veranstaltete, sein durchsichtiges Bemühen, das Mädchen zu beeindrucken und ihm zu gefallen.
    Und plötzlich wusste Mariam, dass ihr Argwohn berechtigt war. Die Einsicht traf sie mit voller Wucht: Was sie da miterlebte, war nicht weniger als Liebeswerben.
    Sie fasste schließlich all ihren Mut zusammen und suchte ihn in seinem Zimmer auf.
    Raschid steckte sich eine Zigarette an und fragte: »Warum nicht?«
    Mariam wusste nun, dass sie geschlagen war. Sie hatte halb erwartet, halb gehofft, dass er alles abstreiten würde, sich überrascht gäbe, vielleicht sogar empört wäre über ihre Unterstellung. Dann hätte sie vielleicht die Oberhand behalten und ihn beschämen können. Doch sein gelassenes Eingeständnis und sein nüchterner Tonfall nahmen ihr alle Entschlossenheit.
    »Setz dich«, sagte er. Er lag mit dem Rücken zur Wand auf seinem Bett, die robusten Beine ausgestreckt. »Setz dich, bevor du in Ohnmacht fällst und dir den Kopf aufschlägst.«
    Mariam ließ sich auf den Klappstuhl fallen, der neben dem Bett stand.
    »Würdest du mir den Aschenbecher geben?«, sagte er.
    Sie gehorchte.
    Raschid war inzwischen an die sechzig oder schon ein paar Jahre darüber – sein genaues Alter kannte nicht einmal er selbst. Sein Haar war grau geworden, aber immer noch dicht und borstig. Unter den Augen hatten sich Tränensäcke gebildet, die Haut im Nacken war runzlig und ledern geworden. Seine Wangen hingen schlaff herunter. Morgens stand er reichlich krumm auf den Beinen. Doch er hatte immer noch breite Schultern, einen massigen Rumpf, kräftige Hände und einen runden Bauch, der das Erste war, was man von ihm sah, wenn er zur Tür hereinkam.
    Im Großen und Ganzen, fand Mariam, hatte er sich – im Gegensatz zu ihr – über die Jahre ganz passabel gehalten.
    »Wir müssen die Angelegenheit ins Reine bringen«, sagte er und stellte den Aschenbecher auf seinen Bauch. Die Lippen spöttisch gekräuselt, fügte er hinzu: »Nicht, dass man sich am Ende über uns das Maul zerreißt. Dass eine junge, unverheiratete Frau bei uns wohnt, werden manche anstößig finden. Das schadet meinem Ruf. Und dem ihren. Nicht zuletzt auch deinem, wenn ich das hinzufügen darf.«
    »In den achtzehn Jahren unserer Ehe habe ich dich nie um irgendeinen Gefallen gebeten«, sagte Mariam. »Jetzt tue ich es.«
    Er inhalierte Rauch und ließ ihn langsam aus dem Mund entweichen. »Sie kann nicht ohne Weiteres hierbleiben, wenn es das ist, was du meinst. Ich werde sie nicht einfach nur durchfüttern, mit Kleidern versorgen und beherbergen. Ich bin schließlich nicht das Rote Kreuz, Mariam.«
    »Aber …«
    »Aber was? Was? Hältst du sie etwa für zu jung? Sie ist vierzehn und kein Kind mehr. Du warst fünfzehn, erinnerst du dich? Meine Mutter war vierzehn, als sie mich zur Welt brachte. Dreizehn, als sie heiratete.«
    »Ich … ich will das nicht«, sagte Mariam, von Abscheu und Hilflosigkeit wie betäubt.
    »Damit hast du nichts zu tun. Die Entscheidung liegt bei ihr und bei mir.«
    »Ich bin zu alt.«
    »Unsinn. Sie ist weder zu jung, noch bist du zu alt.«
    »Doch. Ich bin zu alt, als dass du mir so etwas antun könntest«, erwiderte Mariam und zerknüllte mit zitternden Händen ihr Kleid. »Nach all den Jahren kannst du mich nicht zu einer ambagh machen.«
    »Stell dich nicht an. So etwas ist ganz normal, und das weißt du. Ich habe Freunde mit zwei, drei oder vier Frauen. Dein eigener Vater hatte drei. Und überhaupt, was ich vorhabe, hätten andere Männer an meiner Stelle längst schon getan. Auch das weißt du.«
    »Ich werde es nicht erlauben.«
    Raschid lächelte matt. »Es gäbe eine andere Möglichkeit«, sagte er und scheuerte sich mit der schwieligen Ferse des einen Fußes die Sohle des anderen. »Sie kann verschwinden. Ich werde ihr nicht im Weg stehen. Allerdings käme sie wahrscheinlich nicht weit. Ohne Essen, ohne Wasser und ohne eine rupia in der Tasche, während ringsum Kugeln und Mörsergranaten durch die Luft fliegen. Was glaubst du, wie viele Tage es dauern würde, bis man sie schließlich entführt, vergewaltigt oder mit aufgeschlitzter Kehle in irgendeinen Straßengraben wirft?«
    Er hustete und richtete das

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