Tausend strahlende Sonnen
Mann, hinaus aus dem Fenster, über die Stadt hinweg, die Stadt mit ihren Basaren, labyrinthischen Straßen und zerschossenen Wohnhäusern.
»Er stand meist unter Drogen, wegen der Schmerzen, versteht sich, hatte aber auch klare Momente, selbst wenn ihm dann die Schmerzen schrecklich zusetzten. Immerhin konnten wir uns unterhalten. Ich habe ihm gesagt, wer ich bin und von wo ich komme. Mir schien, dass er froh war, einen hamwatan in seiner Nähe zu wissen.
Meist habe ich geredet. Ihm fiel das Sprechen schwer. Seine Stimme war heiser, und ich glaube, es tat ihm weh, die Lippen zu bewegen. Also habe ich ihm von meinen Töchtern erzählt, von unserem Haus in Peschawar und der Veranda, die mein Schwager und ich im Hof gerade aufzubauen versuchen. Ich habe ihm von dem Verkauf der Geschäfte in Kabul berichtet und gesagt, dass ich noch einmal dorthin fahren müsse, um den Papierkram zu erledigen. Es war nicht viel, was ich ihm sagen konnte, aber es hat ihm, glaube ich, gutgetan, zuzuhören. Das hoffe ich zumindest.
Manchmal hat er auch etwas gesagt. Er war schwer zu verstehen, trotzdem konnte ich einiges aufschnappen. Er hat mir das Haus seiner Eltern beschrieben und von seinem Onkel in Ghazni gesprochen, von den Kochkünsten seiner Mutter geschwärmt und gesagt, dass sein Vater Tischler war und Akkordeon spielen konnte.
Am meisten aber hat er von dir erzählt, hamshira . Er sagte, du seist … wie hat er sich ausgedrückt? … seine jüngste Erinnerung? Ja, ich glaube, das waren seine Worte. Fest steht jedenfalls, dass du ihm viel bedeutet hast. Balay , das war deutlich. Aber er sagte auch, er sei froh darüber, dass du zurückgeblieben bist und ihn in diesem Zustand nicht zu sehen brauchst.«
Laila fühlte sich wieder wie von schweren Gewichten niedergedrückt, ohnmächtig und wie ausgeblutet. Aber ihr Geist hatte sich abgesetzt und flog frei und leicht über Kabul hinweg, über zerklüftete braune Hügel, Wüsten voller Salbei, über tiefe, in rötliche Felsen gegrabene Schluchten und schneebedeckte Berge …
»Als ich ihm sagte, dass ich nach Kabul zurückfahre, bat er mich, dich aufzusuchen und dir mitzuteilen, dass er an dich denkt. Dass er dich vermisst. Ich hab’s ihm versprochen. Er war mir nämlich auf Anhieb sympathisch, verstehst du. Ein anständiger Junge, kein Zweifel.«
Abdul Sharif wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn.
»Ich bin eines Nachts aufgewacht«, fuhr er fort und beschäftigte sich wieder mit seinem Ring, »jedenfalls glaube ich, dass es Nacht war. Das weiß man an solchen Orten nie so genau. Ich wachte auf und bemerkte, dass sich am Bett nebenan einiges tat. Du musst wissen, ich stand selbst unter Drogen, war nie so ganz bei mir und wusste oft nicht, ob ich träumte oder wachte. Ich erinnere mich nur, dass Alarmsignale zu hören waren und Ärzte am Bett standen, die einen ziemlich hektischen Eindruck machten und mit Spritzen hantierten.
Am Morgen war das Bett leer. Ich habe eine Schwester gefragt. Sie sagte, dass er sehr tapfer gekämpft habe.«
Laila nahm nur am Rande wahr, dass sie nickte. Sie hatte es geahnt. Schon in dem Moment, als sie vor diesem fremden Mann Platz genommen hatte, war ihr klar gewesen, welche Nachricht er ihr bringen würde.
»Weißt du, anfangs habe ich gar nicht geglaubt, dass es dich gibt«, sagte er. »Ich dachte, er fantasiert bloß. Vielleicht habe ich sogar gehofft , dass es dich nicht gibt. Es ist mir nämlich ein Graus, schlimme Nachrichten überbringen zu müssen. Aber ich habe es ihm versprochen. Und wie gesagt, er war mir sehr sympathisch. Ich bin vor wenigen Tagen in Kabul angekommen, habe mich nach dir erkundigt und mit Nachbarn gesprochen. Sie haben mir gesagt, wo ich dich finden kann. Sie sagten mir auch, was deinen Eltern zugestoßen ist. Als ich das hörte, habe ich auf dem Absatz kehrtgemacht. Ich wollte dir eigentlich nichts sagen, dir nicht noch mehr zumuten. Ich hatte Angst, du könntest es nicht verkraften. Das kann man doch auch kaum.«
Abdul Sharif beugte sich vor und legte ihr eine Hand aufs Knie. »Ich bin dann trotzdem gekommen, ihm zuliebe. Er hätte es so gewollt. Das glaube ich. Es tut mir schrecklich leid. Ich wünschte …«
Laila hörte nicht mehr zu. Sie erinnerte sich an den Tag, als der Mann aus dem Pandschir-Tal mit der Nachricht vom Tod ihrer Brüder gekommen war. Sie dachte an Babi, in sich zusammengesunken und bleich im Gesicht, und an Mami, wie sie die Hand vor den Mund schlug, als sie das Schreckliche hörte. Zu
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