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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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beiden, Gott schenke ihr ein langes Leben. Als ich schließlich im Krankenhaus war, hatte ich hohes Fieber und zitterte wie ein beid -Baum im Wind. Ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Die Ärztin bescheinigte mir eine akute Blutvergiftung und sagte, dass, wenn ich zwei oder drei Tage länger gewartet hätte, meine Frau jetzt Witwe wäre.
    Ich wurde auf eine Station gebracht, wo, wie ich glaube, ausnahmslos Schwerkranke liegen. »Oh, tashakor .« Er nahm das gefüllte Glas von Mariam entgegen und holte eine große weiße Pille aus der Jackentasche. »Schrecklich groß, diese Dinger.«
    Laila sah ihn die Pille schlucken. Sie spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte. Die Beine waren ihr schwer geworden und schienen wie von Gewichten belastet zu sein. Sie ahnte, dass er auf das eigentliche Thema noch nicht zu sprechen gekommen war, gleich aber damit herausrücken würde. Sie musste an sich halten, um nicht aufzustehen und zu gehen, denn sie fürchtete, dass er ihr etwas zu sagen hatte, was sie nicht hören wollte.
    Abdul Sharif stellte das Glas auf dem Tisch ab.
    »Und dort, im Krankenhaus, habe ich deinen Freund Mohammad Tarik Walizai kennengelernt.«
    Laila stockte der Atem. Tarik, in einem Krankenhaus. Auf einer Station für Schwerkranke.
    Sie schluckte trockenen Speichel und straffte die Schultern. Sie musste sich zusammenreißen. Wenn sie es nicht täte, würde sie womöglich die Fassung verlieren. Sie versuchte, sich abzulenken, und dachte daran, dass ihr Tariks voller Name vor vielen Jahren das letzte Mal zu Ohren gekommen war, nämlich während jenes Sprachkurses im Winter, den sie beide belegt hatten, um Farsi zu lernen. Die Lehrerin, die zu Anfang einer jeden Stunde prüfte, welche Schüler anwesend waren, hatte genau so seinen Namen aufgerufen. Mohammad Tarik Walizai. Seinen vollständigen Namen zu hören war ihr damals komisch vorgekommen, so förmlich.
    »Von einer der Schwestern habe ich erfahren, was mit ihm passiert ist«, fuhr Abdul Sharif fort und klopfte sich mit der Faust auf die Brust, um, wie es schien, der geschluckten Pille den Weg nach unten zu bahnen. »Ich halte mich so oft in Peschawar auf, dass mir Urdu inzwischen durchaus geläufig ist. Kurzum, mir wurde gesagt, dass dein Freund mit zweiundzwanzig anderen Flüchtlingen auf einem Lastwagen in Richtung Peschawar unterwegs war. In der Nähe der Grenze sind sie in ein Gefecht geraten. Der Lastwagen wurde von einer Rakete getroffen, angeblich einem Irrläufer, aber bei diesen Leuten weiß man ja nie. Nur sechs überlebten. Sie sind alle in dasselbe Krankenhaus gekommen. Drei von ihnen starben kurze Zeit später. Zwei Schwestern konnten, wenn ich richtig verstanden habe, schon bald entlassen werden. Übrig blieb nur dein Freund, der junge Walizai. Er war schon seit fast drei Wochen dort, als ich eingeliefert wurde.«
    Also lebte er. Aber wie schwer mochte er verletzt sein, fragte sich Laila verzweifelt. Wie schwer? Dass er auf einer besonderen Station lag, ließ Schlimmes befürchten. Laila spürte, dass ihr der Schweiß ausbrach. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, etwas Angenehmes, an den Ausflug nach Bamiyan etwa, wo sie mit Tarik und Babi die Buddhas bestaunt hatte. Stattdessen aber drängte sich ihr ein Bild von Tariks Eltern auf: die Mutter, unter dem umgekippten Lastwagen begraben, nach ihrem Sohn schreiend, von Flammen und Rauch bedroht, die Perücke auf dem Kopf zerschmelzend …
    Laila musste tief durchatmen.
    »Er lag im Bett neben mir. Zwischen uns war nur ein Vorhang, so dass ich ihn sehen konnte.«
    Abdul Sharif befingerte seinen Ehering. Er sprach jetzt langsamer.
    »Dein Freund war schwer verwundet, sehr schwer. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Schläuche in ihm steckten. Zuerst …« Er räusperte sich. »Zuerst dachte ich, er hätte bei dem Anschlag beide Beine verloren, doch dann sagte eine Schwester, dass der rechte Stumpf schon älter sei. Er hatte auch innere Verletzungen und musste dreimal operiert werden. Man hat ihm Teile des Darms entfernt. Genaueres weiß ich nicht. Außerdem hatte er Verbrennungen. Ziemlich schlimme. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Es dürfte ohnehin genug sein, hamshira . Mehr als genug.«
    Tarik hatte keine Beine mehr. Er war ein Torso mit zwei Stümpfen. Ohne Beine . Laila fürchtete zusammenzubrechen. Es wollte ihr das Herz zerreißen. In verzweifelter Anstrengung versuchte sie, ihre Gedanken Reißaus nehmen zu lassen, fort von diesem

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