Tausend strahlende Sonnen
her. Sie spielte mit einer Heftklammer, die ihr der Mann am Pult gegeben hatte, aß die restlichen Kekse und schlief schließlich auf Mariams Schoß ein.
Gegen drei Uhr wurde Laila in ein Verhörzimmer geführt. Mariam und Aziza mussten im Korridor zurückbleiben.
Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches war Mitte dreißig und trug Zivil: einen schwarzen Anzug, Krawatte und schwarze Halbschuhe. Er hatte einen sorgfältig gestutzten Bart, kurze Haare und Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. Er starrte Laila an und klopfte mit dem Radiergummiende eines Bleistifts auf die Schreibtischplatte.
»Wir wissen«, hob er an und räusperte sich, wobei er diskret die geschlossene Hand vor den Mund führte, »dass du heute schon einmal gelogen hast, hamshira . Der junge Mann vom Busbahnhof ist nicht dein Cousin. Das hat er uns selbst gesagt. Jetzt stellt sich die Frage, ob du dieser Lüge weitere hinzuzufügen gedenkst oder nicht. Ich persönlich rate dir davon ab.«
»Wir wollten zu meinem Onkel«, sagte Laila. »Das ist die Wahrheit.«
Der Polizeibeamte nickte. »Die hamshira im Korridor ist deine Mutter?«
»Ja.«
»Sie hat einen Herati-Akzent. Du nicht.«
»Sie ist in Herat aufgewachsen; ich bin in Kabul zur Welt gekommen.«
»Natürlich. Du bist also verwitwet. Das sagtest du doch, oder? Mein Beileid. Und dieser Onkel, dein kaka , wo lebt er?«
»In Peschawar.«
»Ach ja.« Er leckte an der Spitze des Bleistifts und hielt ihn über einem unbeschriebenen Blatt Papier in der Luft. »Wo genau in Peschawar? In welchem Stadtteil? Straßenname, Bezirksnummer.«
Laila spürte Panik in der Brust aufkeimen und versuchte dagegen anzukämpfen. Sie kannte nur eine einzige Straße in Peschawar und nannte ihren Namen – er war damals auf der Party gefallen, die Mami gegeben hatte, als die Mudschaheddin in Kabul eingezogen waren. »Jamrud Road.«
»Ah, die Straße, an der auch das Pearl Continental Hotel liegt. Das hat er bestimmt erwähnt, nicht wahr?«
Laila griff den Hinweis auf und bejahte seine Frage. »Ja, genau dort.«
»Das Hotel liegt allerdings an der Khyber Road.«
Laila konnte Aziza im Korridor schreien hören. »Meine Tochter hat Angst. Dürfte ich sie holen, Bruder?«
»Für dich bin ich Sergeant. Du wirst gleich bei ihr sein. Hast du die Telefonnummer deines Onkels?«
»Ja. Ich hatte sie. Sie ist …« Trotz der Burka war Laila vor seinen durchdringenden Blicken nicht geschützt. »Tut mir leid, ich muss sie verloren haben.«
Er seufzte durch die Nase und fragte nach dem Namen des Onkels, dem Namen seiner Frau. Wie viele Kinder er habe und wie diese hießen. Wo er arbeite. Wie alt er sei. Seine Fragen schüchterten Laila ein.
Er legte den Bleistift ab, faltete die Hände und beugte sich vor wie ein Vater, der seiner kleinen Tochter etwas beizubringen versuchte. »Ist dir klar, hamshira , dass eine Frau ihrem Mann nicht ungestraft weglaufen darf? Solche Fälle häufen sich. Ich habe oft mit Frauen zu tun, die allein reisen und behaupten, verwitwet zu sein. Bei manchen stimmt’s, bei den meisten aber nicht. Ich vermute, du weißt, dass Frauen, die Reißaus zu nehmen versuchen, ins Gefängnis gesteckt werden, nay ?«
»Lassen Sie uns gehen, Sergeant …«, sie las seinen Namen von der Marke ab, die an seinem Revers steckte, »Sergeant Rahman. Machen Sie Ihrem Namen Ehre und zeigen Sie Mitleid. Was wäre schon dabei, zwei Frauen laufen zu lassen? Sie riskieren doch nichts. Wir sind keine Kriminellen.«
»Ausgeschlossen.«
»Ich flehe Sie an.«
»Es geht um qanoon , hamshira , um eine Sache des Rechts«, sagte Rahman mit feierlicher, gewichtiger Betonung. »Meine Pflicht besteht darin, für Ordnung zu sorgen.«
Trotz ihrer Verzweiflung hätte Laila fast laut aufgelacht. Die Verwendung dieses Wortes erschien ihr absurd angesichts der brutalen Kämpfe zwischen den Mudschaheddin, der Mordtaten, Plünderungen, Vergewaltigungen und Folter, der Hinrichtungen, Bombenanschläge und Artilleriegefechte, die sie sich lieferten, ohne Rücksicht auf unschuldige Zivilisten zu nehmen, die in ihrem Kreuzfeuer zu Schaden kamen. Ordnung . Sie biss sich auf die Zunge.
»Kaum auszudenken«, sagte sie mit schleppender Stimme, »was er uns antun wird, wenn Sie uns zurückschicken.«
Es machte ihm sichtlich Mühe, ihrem Blick standzuhalten. »Was ein Mann in seinem Haus für richtig hält, ist allein seine Sache.«
»Und wo bleibt dort das Recht, Sergeant Rahman?« Tränen der Wut traten ihr in
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