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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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zurückgerufen.
    Milizionäre der Mudschaheddin patrouillierten in der Station und auf dem Vorplatz. Die knappen Befehle, die sie ausstießen, klangen wie Gebell. Sie trugen Stiefel, pakols und staubgrüne Kampfanzüge. Alle waren mit Kalaschnikows bewaffnet.
    Laila fühlte sich beobachtet. Ihr war, als sei sie allen an diesem Ort bekannt, als missbillige jeder, der sie sah, das, was sie und Mariam taten.
    »Hast du schon jemanden entdeckt?«, fragte Laila.
    »Ich suche noch«, antwortete Mariam und wechselte Aziza von einem Arm auf den anderen.
    Dies – und das hatte Laila von Anfang an gewusst – war die erste Schwierigkeit ihres gewagten Unternehmens: einen Begleiter zu finden, der die Rolle eines Familienmitgliedes zu spielen bereit war. Die Freiheiten und Möglichkeiten, die Frauen zwischen den Jahren 1978 und 1992 genossen hatten, gehörten nun der Vergangenheit an. Laila dachte an Babis Worte über die kommunistische Regierung: Es ist wahr, für afghanische Frauen sind gute Zeiten angebrochen, Laila. Seit der Machtergreifung der Mudschaheddin im April 1992 jedoch lautete der offizielle Name ihres Heimatlandes »Islamischer Staat Afghanistan«. Der oberste Gerichtshof unter Rabbani bestand nun mehrheitlich aus rückwärtsgewandten Mullahs, die die von den Kommunisten eingeführten Freiheitsrechte für Frauen rückgängig gemacht und stattdessen Gesetze auf Grundlage der Scharia eingeführt hatten, jener strengen islamischen Rechtssprechung, die unter anderem Frauen dazu verpflichtete, sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Außerdem wurde ihnen untersagt, ohne einen männlichen Angehörigen zu verreisen. Noch wurde auf die Einhaltung dieser Gesetze nur wenig geachtet. »Aber wenn sie einmal nicht mehr so sehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig totzuschießen«, hatte Laila zu Mariam gesagt, »dann werden sie die Gesetze mit Eifer durchsetzen.«
    Weitere Schwierigkeiten erwarteten sie bei der Ankunft in Pakistan. Im Januar dieses Jahres hatte Pakistan, das bereits mit fast anderthalb Millionen afghanischen Flüchtlingen überfordert war, die Grenzen nach Afghanistan geschlossen. Laila hatte erfahren, dass nur Inhaber eines gültigen Visums durchgelassen wurden. Allerdings war die Grenze immer schon sehr porös gewesen, und Laila wusste, dass nach wie vor Tausende von Afghanen ins Nachbarland flohen, entweder mithilfe von Schmiergeldern oder dem Nachweis humanitärer Gründe. Außerdem gab es genügend Schlepper, die man anheuern konnte. »Wir werden einen Weg finden, wenn es so weit ist«, hatte sie Mariam versprochen.
    »Wie wär’s mit dem?«, fragte Mariam jetzt und deutete mit einer Kinnbewegung auf einen Kandidaten.
    »Dem traue ich nicht.«
    »Und der da?«
    »Zu alt. Und außerdem in Begleitung zweier anderer Männer.«
    Schließlich fiel Lailas Blick auf einen bärtigen Mann, der neben einer verschleierten Frau auf einer Bank saß. Er war groß und schlank, trug ein Hemd mit offenem Kragen und einen schlichten grauen Mantel, an dem mehrere Knöpfe fehlten. Auf seinem Schoß hockte ein kleiner Junge in Azizas Alter.
    »Warte hier«, sagte Laila. Im Weggehen hörte sie Mariam wieder ein Gebet murmeln.
    Als sie auf den jungen Mann zuging, blickte er auf und legte die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen.
    »Entschuldigen Sie, Bruder, aber darf ich fragen, ob Sie nach Peschawar fahren?«
    »Ja«, antwortete er blinzelnd.
    »Könnten Sie uns vielleicht einen Gefallen tun?«
    Er reichte seiner Frau den Jungen und trat mit Laila ein paar Schritte beiseite.
    »Worum geht’s denn, hamshira ?«
    Er hatte ein freundliches Gesicht und sanfte Augen, die Laila Mut machten.
    Und so erzählte sie ihm die Geschichte, auf die sie sich mit Mariam verständigt hatte. Sie sei eine biwa , eine Witwe, sagte sie, und wolle mit Mutter und Tochter Kabul verlassen, um in Peschawar zu ihrem Onkel zu ziehen.
    »Ihr wollt euch mir und meiner Familie anschließen«, sagte der junge Mann.
    »Ich weiß, es ist zahmat . Aber mir scheint, Sie sind ein anständiger Bruder, und ich …«
    »Keine Sorge, hamshira . Ich verstehe. Kein Problem. Dann will ich mal Karten für euch kaufen.«
    »Danke, Bruder. Das ist sawab , eine gute Tat. Gott wird’s vergelten.«
    Sie zog einen Umschlag unter ihrer Burka hervor. Er enthielt elfhundert Afghanis, ungefähr die Hälfte des Geldes, das sie in einem Jahr beiseitegelegt hatte. Der junge Mann steckte den Umschlag in seine Hosentasche.
    »Warte hier.«
    Sie

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