Taylor Jackson 03 - Judasmord
müssen wir vielleicht noch einen Moment warten.“ Lincoln hatte diesen Gesichtsausdruck, der ihr verriet, dass er ihr etwas Explosives zu erzählen hatte.
Ihr Magen zog sich zusammen. Sie löste ihren Pferdeschwanz und band ihn neu. „Gott, sag mir nicht, dass es noch mehr Videos gibt.“
„Nein. Nichts Schlimmes für dich.“ Er lächelte und setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl. Baldwin blieb in der Tür stehen.
„Schieß los. Ich habe heute keine Geduld mehr, Linc.“
„Michelle Harris hat eine Jugendstrafakte. Eine gesperrte Akte.“
Taylors Herz klopfte zweimal kurz und schlug dann einen schnelleren Rhythmus an.
„Weswegen? Hast du eine Aufhebung der Sperre beantragt?“
„Ja, aber Baldwin musste helfen. Es war ein Bundesfall.“ „Michelle Harris ist als Kind wegen eines Bundesverbrechens verurteilt worden?“
„Nicht ganz. Sie ist vergewaltigt worden, als sie vierzehn war. Von einem richtig fiesen Typen, einem Serienvergewaltiger, der es auf junge Frauen in Connecticut abgesehen hatte. Deshalb war es so schwer, da ranzukommen. Die Akten liegen in einem vollkommen anderen Zuständigkeitsbereich – und beim FBI. Weil dieser Kerl einige seiner Opfer über die Staatsgrenzen gebracht hat, konnte das FBI ihn außerdem wegen Kidnappings anklagen. Aber er ist durchs Netz geschlüpft und vor Gericht wegen eines fingierten Formfehlers freigekommen. Ich könnte in die Details gehen, aber ich spul lieber zum Warum vor. Er entkommt dem Galgen und zieht los, sich neue Vergnügen zu suchen.
Er fand sie im Sommercamp. Tenniscamp, um genau zu sein. Michelle war vierzehn. Wir kennen nicht alle Einzelheiten, aber in der Nacht, in der er Michelle vergewaltigt hat, hat sie ihn umgebracht.“
„Was?“
„Ja. Das ist eine wilde Geschichte. Er hat sie vergewaltigt und liegenlassen. Doch anstatt es zu melden, ist sie ihm gefolgt. Er ging in eine Bar, sie hat draußen auf ihn gewartet. Er kam betrunken heraus, und sie hat die Situation genutzt. Hat ihn hinter die Bar gelockt, um sich dort um ihn zu kümmern.“
„Wie?“, wollte Taylor wissen.
„Mit einem Stück Stahlrohr. Sie hat ihn zu Tode geprügelt.“
40. KAPITEL
Taylor war müde. Sie saßen wieder vor Henry Andersons Haus. Die Sonne war untergegangen. Die Luft war kühl, beinahe frostig. Die Lichter in Andersons Haus wirkten warm und einladend. Sie beobachteten Michelle Harris, wie sie durchs Wohnzimmer wuselte. Man konnte nicht sagen, ob sie weinte oder vor Freude sang.
Dieses Mal klopfte Taylor mit ihren Knöcheln. Ganz höflich. Klopf, klopf, klopf.
Michelle kam an die Tür und erblickte Taylor und Baldwin. Ihr Gesicht verzog sich vor Wut. Bevor sie jedoch reagieren konnte, hob Taylor beschwichtigend ihre Hände.
„Alles gut. Können wir reinkommen? Wir müssen mit Ihnen reden.“
„Warum sollte ich Sie hereinlassen? Sie haben in der letzten Woche mein Leben komplett zerstört.“ Aber sie trat ein paar Schritte zur Seite und ließ die Tür offen. Mit einem Schulterzucken in Richtung Baldwin trat Taylor ein.
Michelle hatte den Kamin angemacht, und es sah so aus, als würde sie ein wenig feiern. Essen vom Lieferservice und eine offene Flasche Wein standen auf dem Couchtisch im Arbeitszimmer. Dieses Mal nahm Taylor sich einen Moment Zeit, um sich umzusehen. Was sie wusste und was sie sah, schien überhaupt nicht zusammenzupassen. Anderson war ein mieser Charakter, ein Mann, der aus den primitivsten Gefühlen der Menschen Profit schlug. Und doch war sein Haus so warm und einladend wie Taylors eigenes. Dieser Gegensatz jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Michelle setzte sich aufs Ledersofa und zog ihre Füße unter sich. Dann nahm sie das Weinglas in die Hand und drehte den Stiel zwischen ihren Fingern.
„Möchten Sie einen Schluck?“ Es war keine wirkliche Frage, und Taylor machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.
„Warum haben Sie es getan, Michelle? Warum haben Sie Corinne umgebracht?“
Michelle schaute nicht auf, sondern starrte nur ausdruckslos auf den Inhalt ihres Glases. Ein Pinot Noir, der Helligkeit des Rots und den leichten Brauntönen nach zu urteilen, in denen sich die fröhlich tanzenden Flammen fingen. Taylor schaute auf die Flasche. Sie hatterecht. David Bruce, ein gutes Weingut. War Anderson etwa auch ein Weinkenner, so wie sie? Dunkel und Schatten, das waren sie. Zwei Seiten der gleichen Medaille. Sie erschauderte und lenkte ihre Gedanken wieder zu Michelle.
„Ich habe ihn geliebt“, sagte
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