Teufels Küche
seinem Haus in Santa Monica anrief und sich mit seinen Telefongesprächen nach Westen vorarbeitete. In Washington war es jetzt 2 Uhr morgens, in Denver Mitternacht und in Santa Monica 23 Uhr. Bald blieben dem Kandidaten als Anrufpartner nur noch seine kalifornischen Mitbürger übrig.
Haere dachte an den gerade zum Gouverneur gewählten Mann immer nur als »der Kandidat«, denn sobald er in ein neues Amt gewählt worden war, begann er, nach dem nächsten zu gieren. Er hieß Baldwin Veatch, was sich auf wretch – armer Schlucker – reimte, worauf Haere gern hinwies, und war seit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr von der verdächtig liberalen Westside in Los Angeles rasch hintereinander in das Abgeordnetenhaus und in den Senat Kaliforniens, dann in das US-Repräsentantenhaus und schließlich zum Gouverneur des bevölkerungsreichsten Staats der Nation gewählt worden. Das Weiße Haus war der einzig denkbare nächste Schritt, und Baldwin Veatch, als designierter Gouverneur noch nicht vereidigt, streckte bereits vorsichtig erste Fühler aus.
Nachdem Haere den Hörer abgenommen und Hallo gesagt hatte, fragte der designierte Gouverneur: »Nun?«
»Sie ist nicht der Meinung, daß er sich bewerben sollte.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Es entstand eine Pause. »Ist sie so klug, wie man ihr nachsagt?«
»Klüger.«
Noch eine Pause. »Nun, das ist einer weniger.«
»Und ungefähr ein halbes Dutzend sind noch übrig«, sagte Haere.
»Replogle holt dich morgen um neun in der Hotelhalle ab«, sagte Veatch. »Er will in sein Jagdhaus in Breckenridge hinauf.«
»Okay. Wie klang er?«
»Wie ein Mann, der an Krebs stirbt, und noch dazu an Prostatakrebs, was nicht gerade die angenehmste Art ist abzutreten.«
»Glaubt er immer noch, daß das, was er hat, … interessant ist?« fragte Haere, der seine zweideutigen Wörter mit Bedacht wählte.
»Er glaubt, daß man sie damit vierundachtzig in die Luft jagen kann«, sagte Veatch.
Draper Haere seufzte. Trotz wiederholter Bemühungen war es ihm nicht gelungen, Baldwin Veatch davon zu überzeugen, daß das Telefon kein Mittel für eine vertrauliche Verständigung war. Veatch liebte es, Leute anzurufen, um Lob, Ermutigung und geschwätzige, erstaunlich vernünftige Ratschläge zu spenden.
Kurz bevor die Herbstkampagne ernsthaft begonnen hatte, hatten er und Haere das Labour-Day-Wochenende in Veatchs Sommerhaus in French Gulch verbracht. Unter den Leuten, die Veatch angerufen und mit denen er (wenn auch nur kurz) gesprochen hatte, waren ein gewisser Schmidt in Deutschland, de la Madrid in Mexiko, Hussein in Jordanien und Rose aus Philadelphia gewesen, der sich in einer Krise befand.
»Baldy«, sagte Haere, »soll ich dir mal was sagen?«
»Was?«
»Du redest zuviel«, sagte Haere und hängte ein. Er wandte sich seiner Reisetasche zu, nahm eine Flasche Scotch heraus und schenkte sich etwas in ein Glas ein, fügte Wasser aus dem Hahn im Badezimmer hinzu, ging zum Fenster hinüber und sah über den Broadway auf das große Bankhaus, das an der Stelle des vor langer Zeit abgerissenen Shirley-Savoy-Hotel stand, ein altes Hotel, in dessen Zimmern Haere mehr als nur ein paar sexuelle und politische Abenteuer erlebt hatte. Aus irgendeinem Grund waren für Haere Sex und Politik immer Hand in Hand aufgetreten.
Er kam zu der Ansicht, daß er in dieser Nacht alte Erinnerungen nicht brauchte oder wünschte, leerte sein Glas, putzte sich die Zähne und legte sich mit seiner illegalen Bettlektüre hin, die ihm durch einen Spezialkurier aus Sacramento per Flugzeug nach New York gebracht worden war.
Es war eine geschmuggelte Sonderkopie, frisch aus dem Kopiergerät, der Stimmergebnisse der gerade abgeschlossenen Wahlen in Kalifornien, nach Stimmkreisen aufgegliedert. Es war auch nichts anderes als eine lange, lange Liste mit Namen und Zahlen, dennoch war es für Draper Haere eine wunderbare Geschichte glorreicher Siege und schmählicher Niederlagen, die er angeregt las, bis er, kurz bevor er Ventura County erreichte, einschlief.
Draper Haere wachte am nächsten Morgen um 6.30 Uhr auf, die Zeit, zu der er immer aufwachte, unabhängig von Jetlags und wechselnden Zeitzonen. Mit zweiundvierzig war Haere ein Mann von trügerischem Aussehen: Er hatte das Gesicht eines Märtyrers und den Körper eines Athleten. Das Gesicht fand er nützlich, aber der Körper war seit langem weitgehend vernachlässigt worden, weil Haere schon früh zu der Erkenntnis gekommen war, daß jeder energische
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