Teufelsengel
Kreuz an einer Kette besessen, eines aus Silber, mit lauter Glitzersteinchen besetzt. Sie hatte es ständig getragen. Dann, irgendwann, war es verlorengegangen.
Und mit ihm ihr Zutrauen in Religionen.
Niemals, dachte Romy, würde ich mein Kind in ein Internat stecken. Erst recht nicht in eine Klosterschule.
»Der Berentz war so einer, der die linke Backe hinhielt, wenn ihm jemand einen Schlag auf die rechte verpasste. Er … oh mein Gott!« Frau Kaster starrte Romy fassungslos an. Ihr fiel wohl wieder ein, dass Ingmar Berentz eines gewaltsamen Todes gestorben war. »So hab ich das nicht gemeint. Ich … oh, wie entsetzlich!«
Romy hätte ihr gern die Schuldgefühle genommen, sie wusste bloß nicht, wie.
»Einmal«, sagte Frau Kaster leise, »einmal hat er mir einen Korb Obst runtergebracht. Das war, als ich die Grippe hatte. Irgendwie hat er’s gemerkt. Und reagiert.« Sie griff nach einer neuen Zigarette. »Die andern hier im Haus würden nicht mal mitkriegen, wenn einer tot in der Wohnung …«
»Scheint wirklich ein netter Typ gewesen zu sein«, sagte Romy rasch, bevor die Frau sich wieder in Selbstanklagen ergehen konnte.
»Das war er.« Sylvia Kaster zündete die Zigarette nicht an. Sie hielt sie achtlos in der Hand. »Verdammt noch mal, das war er. Und ich hoffe von Herzen, die finden das Schwein, das ihm das angetan hat.«
Sie hatte jetzt Tränen in den Augen. Sackte in sich zusammen. Vergaß Romy. Vergaß die Zigarette. War nicht mehr da.
Romy packte das Diktiergerät ein und verließ leise die Wohnung.
Calypso empfand ein nagendes Unbehagen, sooft er von den Büchern aufschaute, die er um sich herum auf dem Teppich verteilt hatte. Seit Stunden suchte er nun nach einem geeigneten Text für das Vorsprechen. Man hatte ihm gesagt, es gebe da keine Vorschriften, er dürfe sich frei entscheiden.
Im Augenblick wäre er für eine Vorschrift allerdings äußerst dankbar gewesen. Es war mühsam, so im Trüben zu fischen. Kaum hatte er sich für einen Text entschieden, wurde er unsicher, verwarf ihn wieder und fing von vorne an. Seine ganze Zukunft konnte von der Wahl des richtigen Textes abhängen.
Ihm war kalt. Die Heizung lief auf vollen Touren, aber in der ganzen Wohnung zog es wie in einer Bahnhofshalle. Wenn man die Hand an einen der alten Holzfensterrahmen hielt, spürte man die Luftströmung deutlich.
Calypso hatte bei den Klassikern angefangen, dann jedoch überlegt, dass es ihm vielleicht einen Pluspunkt einbringen würde, wenn er die üblichen Trampelpfade mal verließ.
Obwohl die alten Dichter etwas hatten.
Kein Schnee mehr draußen, nur schneidende, trostlose Kälte. In Gedanken sah Calypso Pia in den Straßen umherirren, den kleinen Snoop an ihrer Seite. Was wusste er über sie? Nichts. Sie hatte sich mit ihm unterhalten, ohne das Mindeste von sich preiszugeben.
Wieder ging ihm ihr sonderbares Verhalten durch den Kopf.
Danke, Cal. Vielen Dank für alles.
Dabei hatte er ihr doch nur angeboten, sich in seiner Wohnung auszuruhen.
Ich kann nicht immerzu weglaufen.
Das klang nach großer Tragödie. Calypso war immer skeptisch, wenn jemand so dramatisch daherkam.
Und wenn er sich für ein Stück von Canetti entschied? Oder lieber Elfriede Jelinek?
Es dürfe auch Prosa sein, hatte der Typ in der Schauspielschule gesagt.
»Cal?«
»Komm rein!«
Tonja stieß die Tür mit dem Fuß auf. Sie balancierte ein Tablett mit zwei Bechern Kaffee und einem Teller Kuchen herein.
»Ich dachte, ich muntere dich mal ein bisschen auf«, sagte sie und stellte das Tablett auf einer freien Stelle des Teppichs ab. Dann verschob sie zwei Bücherstapel und setzte sich Calypso im Schneidersitz gegenüber.
Kaffeeduft breitete sich im Zimmer aus und Calypso merkte, wie sich sein Magen vor Verlangen zusammenzog. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.
»Und?«, fragte Tonja, während sie sich mit Heißhunger über eine Zitronenrolle hermachte. »Kannst du deinen Text schon?«
Calypso lächelte gequält. Er schwankte zwischen Kirschstreusel und Apfelkuchen. Offenbar brachte er es überhaupt nicht mehr fertig, eine Entscheidung zu treffen.
»Woran hapert’s denn?«
Tonja war in allem sehr direkt. Calypso schätzte das an ihr. Wenn Romy nicht gewesen wäre, dachte er manchmal, dann hätte er sich garantiert in Tonja verliebt.
Mit fast einundzwanzig musste sie noch immer ihren Personalausweis vorzeigen, wenn sie in einen Film über achtzehn gehen wollte. Sie hatte ein Kindergesicht mit großen
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