Teufelsengel
hatten. Sie hatten das Bedürfnis gehabt, komplett neu anzufangen und ein Leben auf eigenen Füßen zu wagen. Für einen radikalen räumlichen Abstand jedoch hatte ihnen bisher der Mut gefehlt.
Aber Björn träumte schon länger von einem Umzug nach Berlin, wo Maxim lebte, seine große Liebe. Romy durfte sich das gar nicht vorstellen. Björn war ein Teil von ihr. Ihn zu verlieren, wäre eine Katastrophe. Ohne ihn war sie nur halb. Sie hatte keine Ahnung, ob sie als halber Mensch überleben konnte.
Während sie die alten, grauweißschwarz gesprenkelten Steinstufen hinunterging, fragte sie sich, warum es ihr nichts ausgemacht hatte, ihre Eltern zu verlieren.
Weil ich sie nicht wirklich verloren habe, dachte sie.
Ihre Eltern hatten ein Vagabundenleben geführt und waren ständig umgezogen. Vom Rheinland nach Hessen, von Hessen ins Ruhrgebiet, von dort nach Nordfriesland und vom Meer in die Berge, nach Oberbayern. Für Romy und Björn hatte das permanenten Schulwechsel bedeutet. Immer wieder waren sie in fremden Städten und Dörfern gelandet, wo die Leute Dialekte gesprochen hatten, die sie nicht verstanden.
Kaum hatten sie Freundschaften geschlossen, hatte der Vater eine neue Firma gegründet oder einen neuen Job angenommen, wurden wieder Koffer und Kisten gepackt, stand eines Morgens wieder der Möbelwagen vor der Tür.
Schließlich waren die Geschwister in ein Internat gesteckt worden, das von Augustinerinnen geleitet wurde. Die liberale Erziehung der Eltern war angesichts der Strenge der Nonnen zur Erinnerung verblasst. Die Zwillinge hatten sich verzweifelt aneinander festgehalten.
Bis heute.
Die Eltern hatten nicht bemerkt, wie unglücklich ihre Kinder waren. Sie waren zu beschäftigt gewesen. Geld war ins Haus geströmt und wieder hinaus geflossen. Man konnte das am neuen Hobby des Vaters erkennen. Er hatte angefangen, Oldtimer zu sammeln, die er in einer eigens zu diesem Zweck erbauten Halle aufbewahrte. Es wurden immer mehr.
Und dann kam der Gerichtsvollzieher und ließ einen nach dem andern abtransportieren.
Die unterschiedlichen Berufe des Vaters konnte Romy kaum alle aufzählen. Er hatte als Koch gearbeitet, als Teppichhändler, als Versicherungsvertreter, Vermögensberater und Firmenmakler. Er hatte eine Firma für Gebäudereinigung besessen, hatte Software verkauft und einen Frisiersalon für Hunde aufgemacht.
Seine Frau hatte ihn tatkräftig unterstützt.
Im letzten Jahr dann waren sie nach Mallorca ausgewandert, wo sie in einer alten Finca am Meer eine Kunstgalerie eingerichtet hatten.
Möglich, dass sie morgen auf die Herstellung von Tubensenf oder Tiefkühlpizza umsteigen würden. Es war Romy gleichgültig. Sie mochte ihre Eltern, aber sie brauchte sie nicht in ihrer Nähe. Ein Anruf ab und zu war ihr genug. Mehr als ein paar Worte zwischendurch hatte sie ohnehin nur äußerst selten von ihnen bekommen.
Romy und Björn hatten sich nie wirklich aufgelehnt. Sie hatten ja nichts anderes gekannt. Und trotz der Unfähigkeit ihrer Eltern, sich irgendwo endgültig niederzulassen und Verantwortung zu übernehmen, trotz ihrer Weigerung, ihren Kindern ein halbwegs normales Familienleben zu bieten, hatten sie doch auch ihre guten Seiten. Sie waren fröhlich und lebensbejahend, voller Einfälle und berstend vor Energie.
Eine Weile hatten sie versucht, ihre Kinder zu sich nach Mallorca zu locken, doch inzwischen hatten sie es aufgegeben. Sie versuchten zu akzeptieren, dass die Zwillinge anders waren als sie selbst und dass sie eine Sehnsucht nach Beständigkeit verspürten.
Die letzten Stufen, und Romy war im Erdgeschoss angelangt. Sie schloss ihren Briefkasten auf, obwohl sie schon durch die gelochte Leiste am unteren Ende der verbeulten Blechtür erkennen konnte, dass er leer war.
Sie erhielten die Post nicht regelmäßig zu einer bestimmten Uhrzeit. Mal kam sie schon morgens um neun, mal gegen Mittag, und manchmal mussten die Hausbewohner bis zum späten Nachmittag warten. Das nervte Romy ziemlich oft, aber der Postbote wirkte immer so bemüht und abgehetzt, dass ihr Bedürfnis, sich zu beschweren, nie lange anhielt.
Romy verschloss den Briefkasten wieder und zog die schwere Haustür auf. Eiskalte Luft schlug ihr ins Gesicht. Sie blinzelte in den verhangenen Himmel, von dem ein paar einsame Schneeflocken herunterschwebten. Dann stülpte sie sich die Mütze über den Kopf, schlang sich den Schal fester um den Hals und schob die Wollstulpen über die Finger.
Wie gut, dass es bis zur Redaktion
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