Teufelsgrinsen: Ein Fall für Anna Kronberg (German Edition)
Meinung gebildet. Auf den ersten Blick scheint es ein öder Fall zu sein. Ich frage mich jedoch …« Nachdenklich starrte er mich an, und mir wurde bewusst, dass er begonnen hatte, mich zu analysieren – ich verkörperte eine Kuriosität.
»Was hat Sie dazu veranlasst, Ihre Identität zu verschleiern?«, wollte er wissen, in seinem Gesicht ein interessiertes Aufleuchten.
»Das geht Sie gar nichts an, Mr Holmes.«
Schlagartig änderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht, der Modus Operandi wechselte auf Analyse, und eine Minute später schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein. »Ich könnte mir denken, es waren Schuldgefühle.«
»Was?«
»Da es Frauen noch bis vor ein paar Jahren untersagt war, Universitäten zu besuchen, mussten Sie Ihre Haare abschneiden und sich als Mann verkleiden, um Medizin zu studieren. Aber die faszinierende Frage bleibt: Warum haben Sie diese drastischen Maßnahmen für einen Abschluss in Kauf genommen? Ihr Akzent lässt sich eindeutig zuordnen; Sie sind Deutsche, die in der Gegend von Boston Englisch gelernt hat. Harvard Medical School?«
Ich nickte; meine eigentümliche Mischung aus amerikanischem und britischem Englisch, mit dem linguistischen Ballast des Deutschen, war unüberhörbar.
»Zuerst dachte ich, Sie würden in East End leben, aber ich habe mich geirrt. Sie leben direkt in oder in der Nähe von St. Giles.« Er zeigte mit einem langen Finger auf die Spritzer, die meine Schuhe und Hose dekorierten. Ich wischte sie jeden Tag ab, bevor ich das Guy’s betrat, aber etwas blieb immer zurück.
»Die braunen Flecken auf Ihrem rechten Zeigefinger und Daumen deuten darauf hin, dass Sie Teile einer medizinischen Pflanze ernten. Die Fieberdistel, nehme ich an?«
Ich räusperte mich, die ganze Sache ging mir langsam zu weit. »Korrekt«, sagte ich und rüstete mich zum Kampf.
»Dem Kraut zufolge – das mit Sicherheit im Krankenhaus nicht als Medikament eingesetzt wird – behandeln Sie die Armen kostenlos. Und dann wäre da noch der Ort, den Sie sich zum Leben ausgesucht haben – Londonsschlimmstes Elendsviertel! Sie scheinen unter übertriebener Philanthropie zu leiden!« Er runzelte die Stirn, sein Mund leicht verkniffen, und ich erkannte in seinem Gesicht eine Mischung aus Belustigung und Ablehnung.
»Es kümmert Sie wenig, wie Ihre Kleidung aussieht«, fuhr er fort und ignorierte meinen eisigen Blick. »Sie ist ein wenig abgenutzt an Ärmeln und Kragen, aber bestimmt nicht aus Geldmangel. Es mangelt Ihnen an Zeit! Sie haben mit Sicherheit keinen Schneider, der blind genug wäre, die Details Ihrer Anatomie zu übersehen.« An dieser Stelle warf ich einen nervösen Blick über die Schulter und maß den Abstand zu Gibson und seinen Männern. Holmes machte eine ungeduldige Handbewegung, als wäre ihm meine Furcht, von einem weiteren Mann entlarvt zu werden, vollkommen egal.
Ohne Pause fuhr er fort: »Sie haben niemanden, dem Sie zu Hause trauen können, keine Haushälterin oder ein Dienstmädchen, die Ihr Geheimnis für sich behalten könnten. Das zwingt Sie dazu, alles alleine zu machen. Dazu kommen Ihre nächtlichen Ausflüge, um Ihre Nachbarn zu behandeln. Sie halten wahrscheinlich nicht viel vom Schlafen?« Er klang inzwischen spöttisch.
»Ich schlafe durchschnittlich vier Stunden.« Wobei ich mich fragte, ob er bemerkt hatte, dass auch ich ihn analysierte.
In einem trockenen, maschinenartigen »Ra-ta-ta« redete er weiter. »Sie sind sehr mitfühlend, selbst wenn es sich um einen Toten handelt.« Er zeigte auf die Leiche zwischen uns. »Eine der wenigen typisch weiblichen Eigenschaften, die Sie zeigen; obwohl es in Ihrem Fall nicht bloß ein anerzogenes Mitgefühl ist. Ich nehme an, dass Sie sich schuldig fühlen, weil jemand, den Sie geliebt haben, gestorben ist. Und nun wollen Sie andere davor bewahren. Aber Sie sind zum Scheitern verurteilt, denn Tod und Krankheiten sind ganz natürlich. Angesichts der seltsamen Umstände und Ihres ungewöhnlichen Verhaltens behaupte ich, Sie stammen aus ärmlichen Verhältnissen. Hat Ihr Vater Sie großgezogen, nachdem Ihre Mutter gestorben ist? Anscheinend mangelte es in Ihrer Erziehung an weiblichem Einfluss.«
Vollkommen aufgebracht über sein triumphales Gehabe zischte ich: »Sie machen sich die Sache zu einfach, Mr Holmes.« Selten hatte mich jemand derartig gereizt, und ich konnte meine Stimme nur mit großer Mühe unter Kontrolle halten. »Es sind keine Schuldgefühle, die mich antreiben. Ich wäre nicht so weit
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