Teuflische Kuesse
Skizze ab. Kein Künstler, nicht mal ein blinder, konnte so unfähig sein.
Sie sprang
auf und hielt Dower das Flugblatt hin. »Das ist er nicht! Das ist nicht mein
Nicholas!«
Dower
schüttelte den Kopf und war sichtlich verwirrt. »Hab nich gesagt, dass er's is.
Aber Sie ham mich gefragt, ob'n feiner Herr abgeht.«
Laura
wusste nicht, ob sie ihn treten oder küssen sollte. Als Kompromiss umarmte sie
ihn. »Ach, du wunderbarer alter Kauz! Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Genug
jetzt, Mädchen. Wenn ich mich zerdrücken lassen möcht, provozier ich meine
Frau.« Dower wand sich aus ihrer Umarmung heraus
und deutete mit seinem Pfeifenkopf auf das Flugblatt. »Das Ding sagt noch nich,
dass uns Ihr junger Mann in der dunklen Nacht nich doch noch alle in unsern
Betten abmurkst.«
Ein
neugieriger Schauder durchfuhr Laura. Sie mochte zwar Nicholas' richtigen Namen
nicht kennen, aber sie wusste, dass er nachts an ihrem Bett nicht an Mord
denken würde.
Doch Dowers
Worte setzten ihrer Erleichterung einen Dämpfer auf. So überglücklich sie war,
dass ihr Bräutigam kein
streunender Ehemann und Vater von fünf wilden Bälgern war, hatte sie einen
Moment lang vergessen, dass sie nach wie vor keinen Schimmer von seiner
Identität hatten.
»Du hast
absolut Recht, Dower. Du musst einfach in ein paar Tagen wieder nach London und
weiter suchen. Wenn ich an dem Mittwoch vor meinem Geburtstag heiraten soll,
haben wir nicht viel Zeit.« Sie drückte die Stalltür auf, ließ das Sonnenlicht
herein und starrte sehnsüchtig zum Fenster von Lady Eleanors Zimmer hinauf.
»Ich verstehe nicht, warum ihn keiner vermisst. Wenn er mir gehören würde und
ich würde ihn verlieren, würde ich Tag und Nacht suchen, bis er wieder sicher
zu Hause wäre.«
»Ihr
Vetter ist
verschwunden.«
Elf Jahre
hatte Diana Harlow auf diese Stimme gewartet. Hatte von jenem Moment geträumt,
in dem ihr Besitzer durch die Tür welchen Zimmers auch immer trat, in dem sie
sich gerade befand. Sie hatte sich tausend verschiedene Variationen
ausgedacht, wie sie reagieren würde, von einem herzlichen Willkommen über kühle
Herablassung bis zu abgrundtiefer Verachtung. Doch sie hatte sich nie
vorgestellt, so kraftlos zu sein, wenn der Augenblick schließlich da war. So
kraftlos, dass ihr nichts anderes blieb, als weiter ins Haushaltsbuch vor sich
auf dem Tisch zu starren, auch wenn seine Spalten und Zahlen sich in völligen
Wirrwarr verwandelt hatten.
»Ihr Vetter
ist verschwunden«, wiederholte ihr unangemeldeter Gast, als er durchs Zimmer
schritt und vor dem Tisch Halt machte. »Haben Sie irgendeinen Hinweis auf
seinen Verbleib?«
Diana hob
langsam den Kopf und schaute in die frischen grünen Augen von Thane DeMille,
dem Marquis von Gillingham und besten Freund Sterlings. Auch wenn die Zeit und
die zügellosen Exzesse, die man von jedem höher gestellten jungen Gecken
erwartete, in den jungenhaften Zügen ihre Spuren hinterlassen hatten, war sein
Haar noch immer von dem kräftigen Rostbraun ihrer Erinnerung. Seine Arme und
Schultern hatten ihre frühere Ungeschicklichkeit verloren und steckten muskulös
in einem grauen Cutaway. Dazu trug er eine silbern und burgund gestreifte Weste
und eine rehbraune Hose. In seinen eleganten Händen hielt er Hut und Stock.
Sie wandte
sich wieder dem Kassenbuch zu und wusste schmerzlich genau um die Strähnen, die
sich aus ihrem Chignon gelöst
hatten und die Tintenkleckse an ihren Fingern. »Mein Vetter hat seine
Aufenthaltsorte niemals zu meiner Angelegenheit gemacht. Haben Sie an seinen
üblichen Lieblingsplätzen nachgefragt – Almack's? White's? Newmarket?« Sie tauchte
ihre Feder in die Tinte und begann, eine neue, fein säuberliche Zahlenreihe zu
malen. »Wenn er an keinem dieser Plätze zu finden ist, würde ich vorschlagen,
Sie versuchen es im Salon der Wilson-Schwestern.«
Die
Wilson-Schwestern waren als leichte Mädchen verschrien. Ihr Hang zu reichen
Herren der Gesellschaft wurde nur von ihrer Kunstfertigkeit übertroffen, wenn
es darum ging, eben jene Herren zu verwöhnen.
Wenn Thane
schockiert war, dass sie den Namen eines solchen Etablissements kannte und
sich nicht scheute, diesen einem Mann gegenüber auszusprechen, dann versteckte
er seine Regung gut hinter einem spöttischen Lächeln. »Tatsächlich habe ich
erst gestern Abend mit Miss Harriette Wilson gesprochen. Sie hat Sterling
nicht mehr gesehen, seit er aus Frankreich zurückgekommen ist.«
Diana
rutschte mit der Feder ab und verwandelte
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