Das Schlangenschwert
Prolog
Es war der Tag, an dem sich meine Eltern für den Tod entschieden. Das Sterberecht wird ihnen durch unsere Verfassung garantiert.
Ich war ahnungslos.
Es ist sicher kaum zu glauben, aber mir kam bis zum Schluss nicht in den Sinn, dass meine Eltern aufgeben könnten. Mein Vater hatte vor über einem Jahr seine Arbeit verloren, sein Anspruch auf Unterstützung endete, aber meine Mutter arbeitete noch in den Dritten Staatlichen Minen. Ich wusste nicht, dass die Dritten Staatlichen schon seit langem am Rande des Bankrotts dahinvegetierten. Der Lohn wurde in Naturalien ausgezahlt: in Form von Reis, den ich verabscheute, und durch Begleichung der Miete, worum ich mich noch nie gekümmert hatte. Aber so lebten viele. Es gab in der Schule nur wenige Kinder, bei denen beide Eltern Arbeit hatten.
Ich kam vom Unterricht zurück. Warf die Mappe aufs Bett und schaute vorsichtig ins Wohnzimmer, aus dem leise Musik zu hören war.
Zuerst dachte ich: Vater hat endlich Arbeit gefunden!
Mutter und Vater saßen am Tisch, der mit einer weißen Tischdecke gedeckt war. In der Mitte brannten Kerzen in einem antiken Kerzenständer aus Kristall, der nur an Geburtstagen und zu Weihnachten benutzt wurde. Auf den Tellern waren Essensreste – echte Kartoffeln, echtes Fleisch. Vater hatte seinen noch halb vollen Teller von sich geschoben. Es kam selten vor, dass er etwas übrig ließ. Auf dem Tisch standen eine halb volle Wodkaflasche mit echtem Wodka und eine fast leere Weinflasche.
»Tikki«, rief mich Vater, »komm schnell essen!«
Ich heiße Tikkirej. Das ist ein sehr wohlklingender Name, aber verteufelt lang und unbequem. Mama ruft mich manchmal Tik, Vater Tikki. Meiner Meinung nach wäre es für sie einfacher gewesen, vor dreizehn Jahren einen anderen Namen auszusuchen. Obwohl – mit einem anderen Namen wäre ich auch ein anderer Junge.
Ich setzte mich, ohne zu fragen. Vater mag kein Nachfragen. Ihm gefällt es, wenn er von sich aus die Neuigkeiten erzählen kann. Sogar dann, wenn es nur um so eine Kleinigkeit wie ein neues Hemd für mich geht. Mama versorgte mich schweigend mit einem Berg Kartoffeln und Fleisch und stellte die Flasche mit meinem Lieblingsketschup neben den Teller. Also leerte ich in voller Zufriedenheit meinen Teller, bis Papa meine Ahnungslosigkeit beendete.
Eine Arbeit hatte er nicht gefunden.
Für Leute ohne Neuroshunt gibt es jetzt überhaupt keine Arbeit mehr.
Sie müssten sich einen Shunt einsetzen lassen, aber bei Erwachsenen ist das eine sehr gefährliche und teure Operation. Und Mutter bekommt kein Geld ausbezahlt, also können sie nicht einmal mehr die Lebenserhaltungssysteme bezahlen. Dabei ist es völlig klar, dass man auf unserem Planeten nur unter den Kuppeln leben kann.
Also wird uns die Wohnung gekündigt und wir werden in die Außenansiedlung gezwungen. Ohne den Schutz der Kuppeln können normale Menschen ein oder zwei Jahre überleben – wenn sie großes Glück haben.
Deshalb haben die beiden ihr Verfassungsrecht in Anspruch genommen...
Ich saß da und war regelrecht versteinert, ich konnte nicht sprechen, sah die Eltern an und rührte mit der Gabel in den Kartoffelresten herum, die ich gerade mit Ketschup vermengt und in einen roten Brei verwandelt hatte. Ich nehme eben gern zu allem Ketschup, obwohl ich deshalb ausgeschimpft werde...
Jetzt schimpfte niemand mit mir.
Ich hätte sicherlich sagen müssen, dass wir lieber alle zusammen ins Außenleben gehen sollten. Wir würden peinlich genau die Desinfektion durchführen, wenn wir aus der Erzgrube zurückkehrten, und so noch lange, lange leben und genug Geld verdienen, um wieder ein Lebensrecht unter der Kuppel zu erwerben. Aber ich konnte es einfach nicht aussprechen. Ich erinnerte mich an die Exkursion zum Bergwerk, die wir einmal gemacht hatten. Erinnerte mich an die Menschen mit grauer Haut voller Geschwüre, die in den alten Bulldozern und Baggern saßen. Erinnerte mich daran, wie ein Bagger wendete und aus der Grube heraus unserem Schulbus entgegenfuhr und dabei mit der Baggerschaufel grüßte. Und aus dem Führerhaus heraus lächelte ein Baggerführer mit einem »Krokodilmaul«, das sich bei allen Verstrahlten ausbildet. Er wollte uns natürlich einfach nur erschrecken, aber die Mädchen schrien und auch die Jungen bekamen eine Gänsehaut.
Und ich sagte nichts. Überhaupt nichts. Mama fing entweder an zu lachen und mich auf die Stirn zu küssen oder erklärte sehr ernst, dass jetzt mein Nutzungsrecht für die
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