The Forest - Wald der tausend Augen
höher hält und die Schultern ein wenig straffer – und ich lächele.
Aber die Tage sind nach wie vor lang und anstrengend und endlos. Die spärlichen Vorräte schwinden zu nichts. Und dann endlich, als ich glaube, keinen Schritt weitergehen zu können, rinnt mir der erste Regentropfen über die Stirn. Um uns herum dröhnt der Donner, Blitze zucken und dicke Wassertropfen fallen wie Kieselsteine, es tut richtig weh, wenn sie treffen.
Während wir weiter den Pfad entlangstapfen, denken wir vermutlich alle dasselbe: Ist dies der Regen, der das Feuer löscht? Der uns erlauben wird, unser Tempo zu zügeln? Der uns Ruhe, Erleichterung und einen Aufschub gewähren wird?
Als immer mehr Tropfen fallen, wende ich mein Gesicht dem Himmel zu. Ich lasse das Wasser über mein Gesicht laufen, es vermischt sich mit meinen Tränen und spült meine Wut davon. Es wäscht mir die Asche vom Körper, verwischt Travis’ Namen auf meinem Arm und dann ist er weg. Ich breite die Arme aus und lasse das Wasser auf mich einstürzen.
Cass und Harry, mit Jakob in der Mitte, huschen weiter den Pfad entlang und suchen einen Unterschlupf, einen Zweig, einen Busch, irgendwas, um dem peitschenden Regen nicht ausgesetzt zu sein.
Ich gebe dem Verlangen nach, zusammenzubrechen und auf den Boden zu fallen, während das Wasser über mich strömt. Jed kniet sich neben mich. Er legt mir die Hand auf die Wange und fragt mich, was ich da mache.
Ich grinse, breit und kräftig. Ich sage ihm, er soll mich in Ruhe lassen.
Einen Moment lang schaut er mich an. Wasser tropft ihm von Haar, Nase und Kinn.
Und dann lässt er mich allein, denn er weiß um meinen Verlust.
Um mich herum sammelt sich das Wasser, ich verschmelze mit seinem Fluss. In meiner Vorstellung bin ich im Meer, jeder Atemzug ist schwer von Wasser. Meine Lungen rebellieren, als ob ich ertrinken würde.
Unter mir wird der Pfad weich und matschig, ich wälze mich, lasse mich vom Matsch einhüllen, plantsche in Wasser, Schlamm und Tränen.
Den Donner schreie ich an. Brülle den Blitz an. Kreische die Ungeweihten an und verlange zu wissen, warum sie mir alles genommen haben.
Doch die Ungeweihten stöhnen nur und schlagen gegen die Zäune.
Ich stehe auf, rase den Pfad hoch und runter und erhebe drohend die Fäuste. Fordere sie heraus. Aber sie lassen die Hände sinken. Sie ziehen ab, schlurfen davon,
um Harry, Jakob und Jed mit ihrem Hunger zu verspotten.
Wütend laufe ich zu den Zäunen, ramme meine Finger durch die Maschen und rüttele mit ganzer Kraft, hämmere gegen das Metall.
Aber sie lassen mich. Die Ungeweihten ziehen an mir vorbei, als ob ich überhaupt nicht da wäre. Wasser und Matsch verdecken meinen Geruch.
Schließlich wagt Harry sich wieder in den Regen hinaus zu der Stelle am Zaun, an der ich zusammengesunken bin. Ungeweihte Finger schicken sich an, durch mein Haar zu streichen wie eine flüchtige Erinnerung – da zieht er mich weg.
Mit behutsamen Bewegungen wischt er mir den Matsch aus dem Gesicht. Und dann zieht er mich an seine Brust, und während das Gewitter um uns herum tost und die Ungeweihten gegen die Zäune schlagen, flüstert er mir ins Ohr: »Ich vermisse ihn auch.«
Einen Augenblick lang sind wir eins in unserem Kummer, dann hören wir die Rufe.
Ich schaue auf. Jed rutscht den Pfad hinunter und schwenkt die Sichel über dem Kopf. Unsere Blicke treffen sich, er bleibt stehen und winkt uns heran. Ich kann nicht hören, was er ruft.
Harry und ich kommen auf die Beine und folgen ihm.
Wir gehen an Cass und Jakob vorbei, die unter einem ausladenden Busch zittern. Argos läuft hinter mir her, ich zögere, dann schubse ich ihn wieder zu Jakob rüber. Der
kleine Junge packt den Hund am Nacken und schmiegt den Kopf in sein Fell. Leise winselnd schaut Argos zu mir hoch. Ich kraule ihm das Ohr, kratze an der Spitze. Seine Augen werden zu Schlitzen, zufrieden und entspannt schmiegt er sich an Jakob.Verträumt legt der kleine Junge eine Hand auf den Bauch des Hundes und trommelt mit den Fingern, Argos’ linkes Bein fängt an zu zucken. Cass schaut auf, formt mit den Lippen ein »Danke« und behält Jakob fest im Arm, die Lippen an seinem Ohr, als würde sie ihm Geheimnisse zuwispern.
Ich renne los, dorthin, wo Harry und Jed stumm und starr warten. Hier ist der Pfad so breit, dass wir Schulter an Schulter nebeneinander stehen können, Jed hat sich in die Mitte gestellt.
Er hebt die Sichel und zeigt den Pfad hinunter, dann lässt er sie fallen, als wäre die
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