The Forest - Wald der tausend Augen
»Vielleicht gibt es noch ein Dorf.Vielleicht lebt dort ein Heiler. Bist du sicher, dass du gebissen worden bist? Bist du sicher, dass es nicht nur Kratzer sind wie bei mir?«
Sein kleines Schmunzeln bringt die Zeit zum Stillstand, zieht uns wieder hinein in unsere eigene Welt, vor diesem Dorf und dem Durchbruch.Vor seinem gebrochenen Bein.
Zurück in die Zeit, als wir Kinder waren, bevor wir von der Welt wussten.
»Kratzer oder nicht, das hätte keine Rolle gespielt«, sagt er mit rasselnder Stimme. »Als wir aus dem Haus geflohen sind, bin ich gebissen worden.«
Meine Glieder werden schwach, alles in mir gibt nach und fällt in sich zusammen.
»Ich war schon tot«, sagt er und schlägt die Augen auf.
Ich kann nur das eine Wort mit den Lippen bilden:
Warum ? Meine Stimme kann ich nicht finden, meinem zitternden Körper keinen Laut abringen. Ich schlucke. Ich reibe seine Stirn mit den Händen, seine Haut ist schlüpfrig von Schweiß und Blut. Ich senke den Kopf, will seinen berühren, mein Mund bleibt in der Schwebe über seinem – und ich denke nur noch an unsere gemeinsamen Tage im Münster, als ich ihm Geschichten vom Meer erzählt habe.
»Ich will für dich beten«, flüstere ich. Meine Nase läuft, meine Augen sind von Tränen verschwollen.
»Du warst nie so richtig gut im Beten«, sagt er mit einem kleinen Lachen. »Das war nie, was dich angetrieben hat. Bei dir waren das immer die Geschichten.«
Ich schüttele den Kopf, kneife die Augen zu. »Du warst es«, sage ich.
Wieder lacht er leise, es ist eher ein Ausatmen als ein Lachen. »Wenn ich das doch gewesen wäre.«
Ich ziehe ihn weiter auf meinen Schoß, möchte die Infektion aus seinem Körper quetschen und sein Blut mit meiner Liebe reinigen. »Es tut mir leid«, flüstere ich. »Es tut mir so sehr leid.« Nun überkommt mich das Schluchzen, ich höre ihn kaum noch sagen, dass er das weiß.
Jetzt kann ich nur noch daran denken, dass ich meinen letzten Tag mit Travis damit verschwendet habe, wütend auf ihn zu sein. Ich hätte diesen Tag damit verbringen sollen, mir sein Gesicht einzuprägen, die Sommersprossen auf seinen Schultern zu zählen.
Mir wird klar, dass ich nie wieder sehen werde, wie er mich anlächelt, blinzelnd, mit der Sonne im Gesicht, die
kleine Falten um die Augen zum Vorschein bringt. Nie wieder werde ich ihn gehen, nie wieder dieses breitbeinige Humpeln sehen.
Nie wieder werde ich seine Hand auf meiner Wange spüren.
Plötzlich denke ich nur noch an all die Dinge, die ich nicht über ihn weiß. All die Dinge, die ich nie erfahren habe, weil die Zeit nicht reichte. Ich weiß nicht, ob er an den Füßen kitzelig ist oder wie lang seine Zehen sind. Ich weiß nicht, welche Albträume er als Kind hatte, welche Sterne er am liebsten mag und welche Formen er in den Wolken sieht. Ich weiß nicht, wovor er am meisten Angst hat und was ihm die liebsten Erinnerungen sind.
Und jetzt reicht die Zeit nicht mehr, nie reicht die Zeit. Ich will im Jetzt sein mit ihm, seinen Körper an mir spüren und an nichts anderes denken, aber mein Kopf zerplatzt vor Kummer über all das, was mir entgeht. All das, was mir fehlen wird. All das, was ich verschwendet habe.
Dass wir unser Leben nicht miteinander verbringen werden. Dass die Zeit nicht reicht, um ihn mir einzuprägen, und dass ich ihn jetzt schon vergesse.
Dass ich hierfür nicht bereit bin, nicht bereit bin für seinen Tod.
»Erzähl mir vom Meer, Mary«, sagt er. »Erzähl mir, dass es der letzte Ort ist, der von all dem hier unberührt ist.«
Ich schüttele den Kopf. »Das Meer ist nichts«, sage ich. »Es ist wie der Rest der Welt.«
Er nimmt mein Kinn in die Hand, sein Griff ist erstaunlich kraftvoll. »Versprich mir, dass du zum Meer gehst«, sagt er.
Ich schüttele den Kopf. »Du hast doch gesagt …«
»Vergiss, was ich gesagt habe.Versprich mir, dass du das Salz für mich schmecken wirst.«
Ich möchte die Zeit zurückschrauben, sie packen und sie am Fortschreiten hindern. Ich möchte sie an mich raffen, in den Armen halten und diesen Augenblick daran hindern zu vergehen. Aber ich kann es nicht. Und die Hand an meinem Gesicht fällt herunter.
»Nein«, sage ich und drücke ihn fester an mich, versuche, ihn hierzubehalten. »Ich wähle dich. Ich ziehe dich dem Meer vor.«
»Versprich es mir, Mary«, sagt er noch einmal. Dieses Mal ist seine Stimme schwach, der Atem rasselnd.
»Ich liebe dich«, sage ich. Aber er antwortet nicht. Denn er ist tot.
Dann werde ich von ihm
Weitere Kostenlose Bücher