The Homelanders, Band 2: The Homelanders - Auf der Flucht (Bd. 2) (German Edition)
Peitschenhiebe unzählige Narben hinterlassen hatten. Hinter ihnen saß, zusammengekauert und in einen dicken, abgetragenen Mantel und einen Schal gehüllt, ein altes grauhaariges Männlein.
Der hochgewachsene, schlanke Herr beobachtete, wie sich der Wagen über eine abschüssige, zerfurchte Straße im Mondlicht näherte. Ein kalter Wind stellte seinen knielangen Paletot auf den Prüfstand, doch er fröstelte nicht. Sein kurz geschnittenes Haar, weiß von Geburt an, leuchtete in dem fahlen Licht. Seine scharfen Augenwanderten suchend über das herannahende Gefährt, erfassten alle Einzelheiten, von dem frierenden Kutscher bis zu den klappernden Knochen, und blieben schließlich an den Worten MERVEILLES ET MORT hängen, die in roten Lettern auf der Seite der Kutsche prangten und im Schein der hin und her schwingenden Laterne aufblitzten: MERVEILLES ET MORT – Wunder und Tod. Er hoffte, ein Wunder in der Kutsche zu finden. Sein ganzes Leben und einen beträchtlichen Teil seines Vermögens hatte er darauf verwandt, Menschen mit außergewöhnlichen Begabungen aufzuspüren. Die Berichte über dieses fahrende Kuriositätenkabinett, das durch die französische Provence tingelte, klangen äußerst vielversprechend.
Auf einer Seite der Kutsche flatterte knatternd eine Fahne mit Totenkopf und gekreuzten Knochen im Wind. Piraten? Fast unmerklich verzogen sich die Lippen des Gentleman zu einem Lächeln. Das waren keine Piraten. Scharlatane und Zigeuner, ja. Aber Piraten? Nein. Er hatte die Bekanntschaft von echten Piraten auf hoher See gemacht und sie ohne viel Federlesen hingerichtet.
Der Herr hob die Hand und der Kutscher zog die Zügel an. Die Pferde kamen zum Stehen und scharrten mit den Hufen. Wenn sie schnaubten, bildeten sich Dampfwolken in der eiskalten Luft.
»Ich würde gern Eure Ausstellungsstücke sehen«, erklärte der Herr in perfektem Französisch mit Pariser Akzent.
»Aber gewiss, gewiss, Monsieur! Es ist mir eine Freude,sie Ihnen zu zeigen.« Der alte Mann steckte seine Peitsche in die Halterung und kletterte aufgeregt brabbelnd vom Kutschbock. »Es ist eine phänomenale Sammlung! Die großartigste diesseits des Nils. Balsam zur Heilung der Cholera, Elixiere, die sogar den Tod abwehren. Ich habe einen erlesenen Halsschmuck mit Rubinen, der geradewegs aus Kleopatras Grabmal stammt und jede Form der Arthritis verschwinden lässt. Noch dazu macht er die Haut zarter, die Knochen kräftiger …«
»Ich interessiere mich nicht für Flitterkram und Heilmittelchen«, unterbrach ihn der Gentleman. »Ich will Eure Hauptattraktion sehen.«
Hinter dem Kutschbock wurde eine Tür aufgeschoben und ein altes Weib steckte den Kopf heraus. Die Augen der Alten funkelten in ihrem verrunzelten Gesicht. Sie musste mindestens hundert Jahre alt sein. »Die Besichtigung kostet aber ein Sümmchen«, krächzte sie. »Es ist ein äußerst seltenes Exemplar.«
Der Herr öffnete seine behandschuhte Hand. Zwei Goldmünzen schimmerten im Mondlicht. »Ich denke, dies sollte ausreichen.«
Die Alte nickte und winkte den Kutscher heran.
»Gewiss, gewiss, Monsieur«, sagte der Mann und ließ rasch die Münzen verschwinden. »Aber natürlich. Kommen Sie hier entlang.«
Er geleitete den Gentleman zur Tür am hinteren Ende des Wagens. Dort baumelten weitere Knochen als Abwehrzauber gegen den Tod. Der Herr grinste. Nur das primitive Volk glaubte daran, mit Zauberei und Magie dasUnbekannte abwehren zu können. Gebildete Menschen verließen sich auf die Logik.
Der alte Mann holte einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte mit einem metallischen Klicken die Tür auf. Er klappte sie auf und warme, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Der Herr rümpfte nicht einmal die Nase über den fauligen Gestank. Er hatte weitaus Schlimmeres auf den Schlachtfeldern der Krim erlebt.
»Hier drinnen befinden sich die Schätze!« Der Fahrer wollte gerade hineinklettern, als der Herr ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn beiseiteschob.
»Ich gehe allein hinein.«
»Aber, Monsieur, nur ich kann Ihnen über die Herkunft Auskunft geben. Über die Magie! Das Mysterium! Die heilenden Kräfte der einzelnen Stücke.«
»Ich benötige keine Erklärungen.«
Der Kutscher nickte und der Gentleman kletterte die Stufen zu dem übel riechenden Wagenraum hinauf und bückte sich, um sich nicht den Kopf anzustoßen. In dem vollgestopften Raum verbreitete lediglich eine Laterne, die an einem Draht aufgehängt war, schwaches Licht. Nach einem kurzen Moment hatten sich
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