Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
werden. Die Auszahlung von fünftausend Dollar an eine Horde Flussratten würde unter der Brücke einen kleinen Krieg auslösen.
Weit im Osten schimmerten die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken. Dem Suchtrupp ging allmählich die Luft aus. Busters Rekruten waren müde und hatten keine Lust mehr.
Ethel Barber war fünfundachtzig und lebte allein, seit ihr Mann vor Jahren gestorben war. Im Gegensatz zu den meisten anderen unter der Brücke hatte sie von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen. Als sie gegen sechs Uhr morgens aufwachte und sich Kaffee kochen wollte, hörte sie ein leises Geräusch an der Hintertür ihres Vier-Zimmer-Häuschens. Sie griff nach der Pistole, die sie in der Schublade unter dem Toaster aufbewahrte, und schaltete das Licht ein. Wie Buster stand sie plötzlich vor dem Mann, dessen Gesicht sie in den Lokalnachrichten gesehen hatte. Er war gerade dabei, das Insektengitter vor dem kleinen Fenster in der Tür zu entfernen, und wollte offenbar einbrechen. Als Mrs. Barber die Waffe hob, um durch das Fenster zu schießen, blieb Jack Leeper der Mund offen stehen. Seine Augen weiteten sich entsetzt, und er gab einen Schreckenslaut von sich, den sie nicht recht verstehen konnte. Sie hörte schließlich auch nicht mehr so gut wie früher. Dann ging Leeper in Deckung und suchte eilig das Weite. Mrs. Barber griff zum Telefon und wählte den Notruf.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis ein Polizeihubschrauber neben der Brücke schwebte und ein Einsatzteam lautlos durch die Straßen glitt.
Buster Shell wurde wegen Störung der öffentlichen Ordnung, unrechtmäßigen Besitzes einer Handfeuerwaffe und Widerstands gegen die Staatsgewalt verhaftet. In Handschellen wurde er ins städtische Gefängnis verfrachtet. Aus der Traum von der Belohnung!
Leeper wurde innerhalb kürzester Zeit in einem überwucherten Graben in der Nähe der Zufahrtsstraße zur Brücke gefunden. Er hatte einen Halbkreis geschlagen und wollte die Gegend offenkundig verlassen. Was er überhaupt dort gesucht hatte, blieb sein Geheimnis.
Entdeckt hatte ihn die Hubschrauberbesatzung, die das Einsatzteam zu dem Flüchtigen lotste. Nach wenigen Minuten hatte sich die Straße mit Polizeifahrzeugen, bewaffneten Beamten aller Art, Scharfschützen und Spürhunden gefüllt. Sogar ein Krankenwagen war dabei. Der Hubschrauberpilot ging immer tiefer, um nur ja nichts zu verpassen. Der Übertragungswagen eines Fernsehsenders dokumentierte alles.
Theo verfolgte die Liveübertragung. Er war früh aufgestanden, weil er sich die ganze Nacht schlaflos im Bett gewälzt und an April gedacht hatte. Nun saß er mit seinen Eltern am Küchentisch und stocherte in seinen Cornflakes, wobei er den kleinen Bildschirm auf der Küchentheke nicht aus den Augen ließ. Als die Kamera eine Nahaufnahme des Einsatzteams zeigte, das eine Person aus dem Graben holte, ließ Theo den Löffel fallen, griff zur Fernbedienung und stellte den Ton lauter.
Jack Leeper bot einen Furcht einflößenden Anblick. Seine Kleidung war zerrissen und verdreckt. Offenbar hatte er sich seit Tagen nicht rasiert. Das dichte schwarze Haar war verfilzt und stand in alle Richtungen ab. Er wirkte wütend und trotzig, brüllte die Polizisten an und spuckte sogar in Richtung Kamera. Als er sich der Straße näherte, wo ihn weitere Beamte erwarteten, schrie ihm ein Reporter eine Frage zu.
»Hey, Leeper! Wo ist April Finnemore?«
Leeper grinste höhnisch. »Die findet ihr nie!«, brüllte er zurück.
»Ist sie noch am Leben?«
»Ihr findet sie nie!«
»Oh mein Gott«, sagte Mrs. Boone.
Theo stockte der Atem. Wie erstarrt sah er zu, wie Leeper in einen Kleinbus der Polizei verfrachtet und weggeschafft wurde. Der Reporter redete in die Kamera, aber Theo hörte die Worte nicht. Sachte legte er den Kopf in die Hände und fing an zu weinen.
Sieben
In der ersten Stunde hatte Theo Spanisch. Eigentlich war das sein zweitliebstes Fach, direkt nach Sozialkunde bei Mr. Mount. Seine Spanischlehrerin war Madame Monique, eine junge, hübsche, exotische Dame aus dem westafrikanischen Kamerun. Spanisch war nur eine der vielen Sprachen, die sie beherrschte. Normalerweise waren die sechzehn Jungen in Theos Klasse leicht zu motivieren und hatten Spaß am Unterricht.
Heute jedoch war die gesamte Schule wie vor den Kopf geschlagen. Am Vortag hatte aufgeregtes Geschnatter Gänge und Klassenzimmer erfüllt. Das Gerücht von Aprils Verschwinden verbreitete sich wie ein Lauffeuer. War sie entführt worden? War sie
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