Theo Boone und das verschwundene Mädchen: Band 2 (German Edition)
Außerdem gab es in Strattenburg viele gute ausländische Restaurants, und das Kochen überließ man am besten den Profis– fand zumindest Mrs. Marcella Boone. Theo hatte nichts dagegen, genauso wenig wie sein Vater. Wenn sie kochte, erwartete sie nämlich von ihrem Mann und ihrem Sohn, dass sie hinterher aufräumten, und die beiden hatten nicht viel fürs Abspülen übrig.
Essen gab es immer um Punkt 19.00 Uhr– auch das typisch für durchorganisierte Berufstätige, die den ganzen Tag über die Uhr im Auge behalten mussten. Theo setzte seinen Pappteller mit Hühnchen Chow Mein und Shrimps süßsauer auf seinem Fernsehtablett ab und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Dann stellte er einen kleineren Teller auf den Fußboden, wo Judge gespannt wartete. Judge liebte chinesisches Essen und aß grundsätzlich mit den menschlichen Familienmitgliedern im Fernsehzimmer. Hundefutter hielt er für eine Beleidigung.
»Na, Theo, gibt’s was Neues von April?«, fragte Mr. Boone nach ein paar Bissen.
»Nein, leider nicht. Nur jede Menge Gerede in der Schule.«
»Das arme Kind«, sagte Mrs. Boone. »An der Schule machen sich bestimmt alle große Sorgen.«
»Das war das einzige Thema. Totale Zeitverschwendung. Morgen bleibe ich besser zu Hause und helfe bei der Suche.«
»Ziemlich schwacher Versuch«, meinte Mr. Boone .
»Habt ihr der Polizei erzählt, dass Mrs. Finnemore gelogen hat und gar nicht zu Hause bei April war? Und Montag- und Dienstagnacht auch nicht? Dass sie eine Wahnsinnige ist, die Pillen einwirft und sich nicht um ihre Tochter kümmert?«
Schweigen. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille im Raum.
»Nein, Theo, das haben wir nicht«, sagte Mrs. Boone dann. »Wir haben das besprochen und uns entschlossen zu warten.«
»Aber warum?«
»Weil es der Polizei nicht helfen wird, April zu finden. Wir warten ein oder zwei Tage und sehen, wie sich die Sache entwickelt«, erklärte Mr. Boone.
»Du isst ja gar nichts, Theo«, stellte seine Mutter fest.
So war es. Ihm war der Appetit vergangen. Das Essen schien irgendwo auf halbem Weg in seiner Speiseröhre stecken zu bleiben, wo ein dumpfer pulsierender Schmerz alles blockierte. »Ich habe keinen Hunger«, sagte er.
Als sie sich später eine Wiederholung von Law and Order ansahen, wurde das Programm für eine aktuelle Meldung des Lokalsenders unterbrochen. Die Suche nach April Finnemore ging weiter, aber die Polizei hielt sich nach wie vor bedeckt. Erst wurde ein Foto von April gezeigt, dann einer der Suchzettel, die Theo und seine Freunde verteilt hatten. Unmittelbar darauf folgte das Verbrecherfoto von Jack Leeper, der darauf wie ein Serienmörder aussah.
»Die Polizei prüft die Möglichkeit, dass Jack Leeper nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis in Kalifornien nach Strattenburg zurückgekehrt ist, um seine Brieffreundin April Finnemore zu besuchen«, verkündete der Sprecher wichtigtuerisch.
Die Polizei prüft eine ganze Menge, dachte Theo. Das heißt noch lange nicht, dass was dran ist. Er hatte den ganzen Tag über Leeper nachgedacht und war davon überzeugt, dass April diesem Gauner nie aufgemacht hätte. Mittlerweile hielt er es für durchaus möglich, dass die Entführungstheorie auf einem einzigen großen Zufall beruhte: Leeper bricht aus dem Gefängnis aus, kehrt nach Strattenburg zurück, weil er jahrelang hier gelebt hat, und wird in einem Supermarkt zufällig zu der Zeit gefilmt, als April wegläuft.
Theo kannte April gut, aber ihm war klar, dass es vieles gab, das er nicht wusste. Und auch gar nicht wissen wollte. War es denkbar, dass sie weggelaufen war, ohne ihm etwas davon zu sagen? Allmählich kam er zu dem Schluss, dass das durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Er kuschelte sich auf dem Sofa unter eine Decke, Judge schmiegte sich eng an seine Brust, und irgendwann schliefen beide ein. Theo war seit halb fünf Uhr morgens wach gewesen und völlig übermüdet. Er war körperlich und emotional erschöpft.
Sechs
Auf der Ostseite wurde Strattenburg durch eine Biegung des Flusses Yancey begrenzt. Eine alte Brücke, die sich Auto- und Zugverkehr teilten, führte ins nächste County. Die Brücke wurde nicht viel benutzt, weil es kaum Grund gab, dorthin zu fahren. Ganz Strattenburg lag westlich des Flusses, daher bewegte sich praktisch der gesamte Verkehr aus der Innenstadt in diese Richtung. Vor Jahrzehnten war der Yancey ein wichtiger Verkehrsweg gewesen, auf dem Holz und Feldfrüchte transportiert wurden. In den Anfangsjahren von
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