Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
darstellt, ließe sich Wissen als eine Interpretation von Daten in Hinblick auf ihren kausalen Zusammenhang und ihre innere Konsistenz beschreiben.
Man könnte es auch altmodisch formulieren: Wissen existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann. Wissen referiert auf Erkenntnis, die Frage nach der Wahrheit ist die Grundvoraussetzung für das Wissen. Seit der Antike wird so die Frage nach dem Wissen von der Frage nach der Nützlichkeit von Informationen aus systematischen Gründen zurecht getrennt. Ob Wissen nützen kann, ist nie eine Frage des Wissens, sondern der Situation, in die man gerät. Es gab Zeiten – so lange sind sie noch nicht vorbei –, da galt Orientalistik als ein Orchideenfach, auf das so mancher Bildungsplaner glaubte verzichten zu können. Nach dem 11. September 2001 war alles anders, und Grundkenntnisse des Arabischen und der Geschichte des Vorderen Orient avancierten zu einer höchst begehrten Kompetenz.
Angesichts dessen allerdings, was gewußt werden könnte, weil es irgendwo gewußt wird, muß jeder Anspruch auf Wissen zur Verzweiflung führen. Schwanitz’ suggestiver Untertitel, Alles, was man wissen muß, versprach Trost in einer Situation, in der sich jeder durch die Datenfluten und Informationsangebote überfordert fühlen muß. Die Enthierarchisierung des Wissens und seine Darstellung als beliebig variierbares und erweiterbares Netz läßt keine Gestalt des Wissens mehr plausibel erscheinen. Angesichts der Unendlichkeit eines jederzeit zugänglichen potentiellen Wissens sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, faktisch Unwissende. Zwar war es noch nie so leicht, sich über eine Frage, ein Fachgebiet oder ein Phänomen einigermaßen umfassend zu informieren. Fast jede wissenschaftliche Disziplin ist mittlerweile durch öffentlichkeitswirksame Magazine und Zeitschriften vertreten, und über das Internet kann man sich von einfachen lexikalischen Zugängen bis zu komplexen Darstellungen alles herunterladen. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die quantitativen Möglichkeiten zu wissen, sich zu dem, was tatsächlich gewußt wird, nahezu verkehrt proportional verhalten. Möglich, daß gerade diese Leichtigkeit des Zugangs die Bildung von Wissen sabotiert. Ohne Durcharbeitung und verstehende Aneignung bleiben die meisten Informationen schlechterdings äußerlich. Nicht nur Studenten verwechseln zunehmend das mechanische Kopieren einer Seminararbeit aus dem Internet mit dem selbständigen Schreiben einer solchen Arbeit.
Angesichts der unendlichen Datenströme der Informationsmedien trösten wir uns gerne mit dem Satz, daß es nicht darauf ankomme, etwas zu wissen, sondern darauf, zu wissen, wo wir das Wissen finden. Wissen in der Wissensgesellschaft ist ausgelagertes Wissen. Aber: Wissen läßt sich nicht auslagern. Weder in den traditionellen Archiven und Bibliotheken noch in den modernen Datenbanken lagert Wissen. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung besitzen auch Organisationen kein Wissen. Sie können höchstens Bedingungen bereitstellen, durch die das Wissen ihrer Akteure in eine Beziehung zueinander gebracht und weitergegeben werden kann. In keiner Datenbank, in keinem Medium, das unstrukturiert Daten akkumuliert, finden wir deshalb Wissen. Wissen bedeutet immer, eine Antwort auf die Frage geben zu können, was und warum etwas ist. Wissen kann deshalb nicht konsumiert werden, Bildungsstätten können keine Dienstleistungsunternehmen sein, und die Aneignung von Wissen kann nicht spielerisch erfolgen, weil es ohne die Mühe des Denkens schlicht und einfach nicht geht. Aus diesem Grund kann Wissen auch nicht gemanagt werden. Das Wissen selbst ist, solange es keine anderen sozialen und intelligiblen Akteure auf dieser Welt als Menschen gibt, bei diesen. Allem Wissen ist so der Makel der Subjektivität eingeschrieben, es ist stets lückenhaft, inkonsistent und in hohem Maße von Kontingenz geprägt.
Allerdings ist das Wissen des einzelnen nicht mit dem gleichzusetzen, was er im Kopf hat. Im Gedächtnis gespeicherte Daten welcher Art auch immer sind noch kein Wissen. Die Gedächtnisakrobaten, die imstande sind, sich unzählige Einzelheiten zu merken, und die wandelnden Lexika, die imstande sind, jedes Kreuzworträtsel zu lösen, wissen im emphatischen Sinn nicht allzuviel. Zu einem Wissen würden diese Einzelheiten und Begriffe erst dann, wenn sie nach logischen und konsistenten Kriterien derart miteinander verknüpft werden können, daß sie einen
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