Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
sind, hört das Lernen sowenig auf wie das Forschen. Doch dieses Prinzip gilt im wesentlichen seit der Neuzeit und ist kein Kennzeichen unserer Gegenwart. Weder in den Wissenschaften noch bei den Praktiken und Techniken des Alltags galt die nun verächtlich gemachte Trennung von Lernzeit und Arbeitszeit uneingeschränkt. Richtig ist, daß ein bestimmtes, vor allem auch praktisches Wissen in vorindustriellen Zeiten veränderungsresistenter war, als es gegenwärtig zu sein scheint. Und neu ist die Vorstellung, daß die sogenannten wissensbasierten Tätigkeiten nun alle Bereiche der Gesellschaft erfaßt haben und in Zukunft bestimmen werden.
In der Regel geht dieses Konzept davon aus, daß fortgeschrittene Ökonomien ausschließlich auf jenen forschungsintensiven Technologien beruhen werden, die Motor und Konsequenz der Wissensproduktion darstellen. In letzter Zeit haben sich in rascher Folge Informations-, Gen-, Bio- und Nanotechnologien als solche Hoffungsträger mehr oder weniger etablieren können. In der Tat basieren diese Technologien in hohem Maße auf wissenschaftlichem Wissen, und wer in Forschung und Entwicklung investiert, setzt auf die Expansion anwendungsorientierter Wissenschaften, deren Beschleunigung nicht nur zu jenem Wachstum des Wissens führt, das durch den Alterungsprozeß des Wissens konterkariert wird, sondern vor allem zu Vorsprüngen in der Produktion marktfähiger Technologien.
Von Wahrheit als Ziel der Wissenschaft ist nur noch am Sonntag die Rede. Ginge es in erster Linie um Erkenntnisfortschritt, nähme sich die herrschende Wettbewerbsideologie einigermaßen komisch aus. Ohne die Erfolge dieser Technologien und der ihnen zugrunde liegenden Forschungen schmälern zu wollen, fragt sich, ob die zunehmende Bedeutung des wissenschaftlich-technischen Komplexes in modernen Gesellschaften genügt, um in einem emphatischen Sinn von Wissensgesellschaft sprechen zu können.
Soll der Begriff der Wissensgesellschaft den der Industriegesellschaft ablösen – über das Ende des Kapitalismus muß wohl nicht mehr weiter gesprochen werden –, dann wird damit nicht weniger behauptet, als daß eine die Gesellschaft selbst konstituierende Produktionsform durch eine andere gesellschaftsformierende Kraft abgelöst wird. Dieser Eindruck kann nur entstehen, wenn man die Industriegesellschaft auf die schwarz-romantischen Bilder des frühen Industriezeitalters verkürzt: Die Hochöfen, Stahlwerke und Fabrikhallen sind in der Tat in den fortgeschrittenen Gesellschaften zu exotischen Phänomenen geworden, ganze einstige Industrieregionen wie das Ruhrgebiet sind als Zonen industrieller Produktion verschwunden, und nichts illustriert diesen Transformationsprozeß anscheinend besser als die Tatsache, daß dort, wo einstens die Hochöfen loderten, nun computeranimierte Erlebniszonen die wissensbasierten Dienstleistungen der neuen Gesellschaft anbieten.
Allein, der Schein trügt. Daß bestimmte Formen industrieller Arbeit nicht mehr sichtbar sind, verdankt sich vorab weniger ihrem Verschwinden als ihrer Verlagerung. Die Öfen der Stahlindustrie, die Schlote der petrochemischen Industrie lodern und rauchen nach wie vor, aber an anderen, billigeren Standorten. Entscheidend aber ist, daß an der Grundstruktur der industriellen Produktionsweise weder die digitale Revolution noch der Fortschritt in Wissenschaft und Technik etwas geändert haben. Eher im Gegenteil. Die industrielle Produktionsweise beschreibt nämlich nicht, welche Rohstoffe mit welchen maschinellen Verfahren zu welchen Gütern verarbeitet werden, sondern sie definiert überhaupt eine bestimmte Form der Herstellung von Gütern aller Art.
Diese Form läßt sich durch folgende Logik beschreiben: Es geht um die tendenziell mechanisierte und automatisierte Herstellung von identischen Produkten unter identischen Bedingungen mit identischen Mitteln. Der Begriff der Industrie wurde so von Anbeginn an als Gegensatz zum Handwerk verstanden, das auf die individuelle Herstellung von nichtidentischen Produkten unter nichtidentischen Bedingungen abzielte. Industrialisierung bezeichnet so den Prozeß der Unterwerfung menschlicher Tätigkeit unter das identitätslogische Produktionsparadigma. In der Regel gibt es nichts, was Menschen herstellen, das sich nicht industrialisieren ließe, und je fortgeschrittener die dafür verwendeten Automatisierungstechnologien sind, desto komplexere Tätigkeiten bis hin in den Bereich der individuellen Sphären der Kommunikation, ja der
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