Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
doch eine andere Wendung. Während Halbbildung noch kritisch auf die Idee von Bildung bezogen werden konnte, verliert diese nun jede Legitimität. Die Partikularisierung, Fragmentierung und gleichzeitige universelle Verfügbarkeit des Wissens läßt sich auf keine verbindliche Bildungsidee mehr beziehen, auch nicht in einem kritischen Sinn. Nicht Halbbildung ist das Problem unserer Epoche, sondern die Abwesenheit jeder normativen Idee von Bildung, an der sich so etwas wie Halbbildung noch ablesen ließe.
Die Idee von Bildung, wie sie als Programm der Selbstformung des Menschen vom Neuhumanismus formuliert und vom Bildungsbürgertum so recht und schlecht gelebt wurde, hat aufgehört, Ziel und Maßstab für die zentralen Momente der Wissensproduktion, der Wissensvermittlung und der Wissensaneignung zu sein. Diese Mechanismen funktionieren nicht nur jenseits einer Idee von Bildung, sondern sie setzen deren Abwesenheit geradezu voraus. Daß niemand mehr zu sagen weiß, worin Bildung oder Allgemeinbildung heute bestünden, stellt keinen subjektiven Mangel dar, sondern ist Resultat eines Denkens, das Bildung auf Ausbildung reduzieren und Wissen zu einer bilanzierbaren Kennzahl des Humankapitals degradieren muß.
Alle Bildungstheorie heute müßte, gemessen an dem, was in der europäischen Tradition seit der Antike unter der Bildbarkeit des Menschen verstanden worden war, und in Fortführung des kritischen Programms Adornos deshalb eine »Theorie der Unbildung« sein. Unbildung meint dabei nicht die schlichte Abwesenheit von Wissen, auch nicht eine bestimmte Form von Unkultiviertheit, sondern den mitunter durchaus intensiven Umgang mit Wissen jenseits jeder Idee von Bildung. Unbildung heute ist weder ein individuelles Versagen noch Resultat einer verfehlten Bildungspolitik: Sie ist unser aller Schicksal, weil sie die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes ist.
Erstaunlich immerhin, daß sich die Menschen die Erinnerung daran, was mit Bildung einmal gemeint gewesen war, offenbar so einfach nicht austreiben lassen. Die Sehnsucht nach einem gültigen ästhetischen Kanon zeigt so gut wie die Lust an der antiken Mythologie, daß die Menschen sich das, was ihnen die Bildungsreformer aller Schattierungen als Relikt humanistischer Bildungsschwärmerei hatten madig machen wollen, immer wieder zurückholen – wenn es sein muß mit den Mitteln der Wissens- und Mediengesellschaft, aber gegen deren Intentionen. Solche Sehnsüchte, in die sich auch so manche Attitüde mischt, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß daraus kein sozial verbindlicher Bildungsbegriff mehr erwachsen kann. Aber Reminiszenzen an das, was Bildung wohl nie war, aber immerhin einmal intendiert hatte, mögen das Ihrige dazu beitragen, um sich einen einigermaßen klaren Blick auf jenen trostlosen Zustand des Geistes zu gestatten, der mit dem Euphemismus »Wissensgesellschaft« nur notdürftig verdeckt wird.
Wien, am 1. Mai 2006
Konrad Paul Liessmann
1.
Wer wird Millionär
oder: Alles, was man wissen muß
D IE in Deutschland von einem Privatsender ausgestrahlte Quizshow Wer wird Millionär , die in Österreich unter dem Titel Millionenshow vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet wird, gehört seit Jahren zu den beliebtesten und erfolgreichsten Formaten dieser Art. Neben dem Erfolg von Dietrich Schwanitz’ Sachbuch-Bestseller Bildung. Alles, was man wissen muß und den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Rowling gehören diese Shows für viele Kulturoptimisten zu jenen Indizien, die zeigen, daß die Bildungs- und Leselust der Menschen ungebrochen ist.
Daß sich immer wieder und immer noch Menschen finden, die sich – durch das Studium von Lexika und einschlägigen Handbüchern mehr oder weniger gut vorbereitet – vor einem Millionenpublikum einem Wissenstest stellen, ist in der Tat bemerkenswert. Verantwortlich dafür mag nicht nur die Aussicht auf den Gewinn sein, auch nicht nur die Simulation einer Prüfungssituation, deren Beobachtung immer schon mit beträchtlichem Lustgewinn verbunden war, sondern auch die Sache selbst, um die es geht: das Wissen. Genau in diesem Punkt demonstriert diese Show, kulturindustrielles Produkt par excellence, einiges davon, wie es um das Wissen in der Wissensgesellschaft bestellt ist.
Die Konstruktion der Show ist denkbar einfach. Einem Kandidaten, der es nach verschiedenen Vorauswahlverfahren bis ins Zentrum des Geschehens geschafft hat, werden bis zu fünfzehn Fragen gestellt, deren
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