Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Wissens selbst, findet die neuhumanistische Idee der Allgemeinbildung als verstehende Aneignung der Grundlagen unserer Kultur kaum noch theoretische oder gar curriculare Entsprechungen. Paradox immerhin, daß mit der Austreibung der kanonischen Bildung aus den nur noch pro forma sogenannten Gymnasien oder Allgemeinbildenden Schulen die Sehnsucht nach ebendieser Bildung gewachsen ist. Ein Buch wie Dietrich Schwanitz’ Bildung versprach dann auch, gerade diese Sehnsucht nach den verlorenen Bildungsgütern und ihrer Gewichtung zu befriedigen: Alles, was man wissen muß. 5 Der Untertitel des Buches suggeriert zweierlei: Was zur Bildung gehört, ist weder beliebig noch unendlich, sondern läßt sich auf wenigen hundert Seiten, durchaus unterhaltsam, fixieren. Bildung ist mehr und anderes als eine Sammlung von Kuriositäten oder ein zufälliger Ausschnitt aus einer gerade vom Zeitgeist hochgespülten Wissenschaftsdisziplin. In diesem Sinn ist Schwanitz’ Buch, wenn auch mit ironischer Distanz, noch einem Bildungskonzept verpflichtet, das Bildung als Aneignung der unverrückbaren Fundamente der europäischen Kultur sehen wollte. Und diese Fundamente sind weder beliebig noch unüberschaubar. Das, was man tatsächlich wissen muß, kann man auch wissen – es genügt, das genannte Buch zu lesen. Was aber, wollte man irgendeiner Idee von Bildung genügen, muß man denn tatsächlich wissen?
Wer behauptet, er wisse alles, was man wissen muß, wird nicht lange warten müssen, um nachgewiesen zu bekommen, daß er vieles, was man wissen müßte, nicht weiß. Schwanitz hatte es seinen Kritikern insofern leicht gemacht, als er sich der deutschen Tradition anschloß und die Inhalte der Bildung im wesentlichen auf die Bereiche der Literatur, der Historie, der Kultur- und Geistesgeschichte beschränkte. Der Vorwurf, die andere Bildung , nämlich die der Mathematik und Naturwissenschaften, sträflich zu vernachlässigen, folgte postwendend, auch wenn dem Versuch, das Schwanitzsche Versäumnis in ähnlicher Manier zu kompensieren, nicht der gleich große Erfolg beschieden war. 6 Und natürlich beging Schwanitz das moderne Sakrileg, Bildung aus europäischer Perspektive zu definieren und nicht den Außenstandpunkt der Opfer europäischer Politik gegenüber der europäischen Kultur einzunehmen. In der Tat gehört es zur Logik jeder Bildungsdebatte, daß man jede These zur Frage, was man wissen muß, mit dem Hinweis auf etwas, das auch noch dazu gehört, aushebeln kann. Der Grundfehler bestand schon bei Schwanitz darin, das Wesen der neuhumanistischen Bildungskonzeption mißverstanden zu haben. Dieser war es nie darum gegangen festzuhalten, was man wissen muß.
Die Frage, was man wissen muß, hat schon eine Zielvorstellung im Blick, für die dieses Wissen einen funktionalen Wert hat. Aber auch Schwanitz ist so desillusioniert, daß er weiß, daß jenes unter dem Titel der Bildung noch einmal versammelte Wissen mittlerweile weder den sozialen Aufstieg garantiert noch die Berufschancen verbessert, sondern gerade einmal ausreichen soll, um auf diversen Partys den Intellektuellen mimen zu können. Auch bei Schwanitz regrediert Bildung zu jenem Gesellschaftsspiel, dem sie vielleicht einmal entsprungen ist. Doch sogar hier ließe sich die perennierende Frage stellen: Was muß man wirklich wissen, um beim höheren gesellschaftlichen Small talk zu brillieren, ohne als Besserwisser oder Kuriositätensammler negativ aufzufallen?
Kaum eine Party im politisch interessierten Milieu, bei der nicht irgendwann das Gespräch auf den Krieg im Irak, den Krieg gegen den Terror, die Kriege der Zukunft und den Krieg im allgemeinen zusteuerte. In diesem Zusammenhang ist es gut zu wissen, daß das unvermeidlich fallende Wort vom Menschen als des Menschen Wolf auf Thomas Hobbes zurückgeht. Soweit Schwanitz. 7 Natürlich macht es sich noch besser, zitiert man diesen Satz in lateinischer Sprache – homo homini lupus –, aber das muß man schon nicht mehr können, geht es nach jenen Bildungsexperten und Reformern, die das Lateinische mittlerweile als generell verzichtbar erachten. Und daß man diesen Satz nicht, wie Schwanitz suggeriert, in Hobbes’ Hauptwerk Leviathan, sondern in einem Widmungsschreiben zu seiner Abhandlung Vom Bürger findet, muß man wohl nicht mehr wirklich wissen. Daß Hobbes den Wolfs-Satz aber gar nicht erfunden hat, sondern daß er ein verbreitetes lateinisches Doppelsprichwort zustimmend zitiert, das sich in einschlägigen Sammlungen
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