Theres
Militärallianzen, militärische Interventionen und »innere Sicherheit« – Letztgenanntes gleichbedeutend mit dem Ausbau des Gewaltapparates gegen das eigene Volk.
Kein Sieg ist errungen. Die Welt bleibt ein einziges Auschwitz.
Unterm
Glashimmel
(Zeiss-Planetarium)
Erst im Februar dieses Jahres lässt sich die Mutter erweichen, sie mit ins Planetarium zu nehmen. Nachts heulen bereits die Luftschutzsirenen, Wienke liegt krank, auch der Nachbarsjunge soll erkältet sein ( er macht uns wirklich alles nach , wie Renate sagt); doch obwohl Ulrike diesen Reinhard, oder Bubi, wie sie ihn nennt, vermisst, ist sie stolz, allein mit der Mutter und Mutters Freundin unterwegs zu sein. In der Straßenbahn sitzt sie breitbeinig zwischen den beiden hochgewachsenen Frauen, bis die Mutter ihr mit einem ängstlichen Blick auf den gegenübersitzenden grinsenden Soldaten auf die Knie klatscht. Ulrike kriecht stattdessen auf den Sitz hinauf, presst das Gesicht an das beschlagene Straßenbahnfenster. Die üppigen Fassaden mit ihren Erkern und hohen Fensterrahmen, die Camsdorfer Brücke, die der »Schwede« gesprengt hatte, Wasser, das unter einem Dunstschleier träge dahinfließt, Eis an den Uferrändern und nacktes Astwerk, das die dunkle Wasserschicht wie mit gespreizten Fingern betastet. Und wir drehen uns nicht um . Die Ermahnungen der Mutter, wie immer von Renate sekundiert: Starr nicht so, Ulrike , als sie am Tor Eintrittskarten lösen und die breite Steintreppe hinaufsteigen. Soldaten mit schimmernden Stahlhelmen und Schnellfeuergewehren flankieren die beiden Säulen, wie jetzt überall in der Stadt. (Die Mutter und Renate hören abends immer Radio, und das Radio spricht in einer Sprache, die sie nicht begreift; auch im Gespräch der Frauen untereinander gibt es lange, fremde Wörter, wie Truppenzusammenziehungen und Invasionsarmeen .) Doch der Eingang zum Planetarium ist erleuchtet wie nie zuvor: Fackeln lodern im Dunst, und im Säulengang hängen bunte Banderolen und große Plakate, durch eins davon buchstabiert sie sich mühevoll: GESCHICHTE UND TRÄUME DESGERMANISCHEN VOLKES . Nicht da lang , sagt Renate angestrengt lächelnd und fängt an (sie vermutet, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken), eine Geschichte zu erzählen, von einem gewissen Herrn Zeiss, der Glasstückchen mit derart viel Geschick schliff, dass er damit Instrumente bauen konnte, mit denen man tief in den Menschenkörper hineinsah und, wenn man sie umdrehte: bis hinaus in den Weltraum.
Hat er hier in Jena gewohnt?
Hier hat er gelebt und gewirkt. Eigentlich hat er wohl überall und nirgends gewohnt.
Sie sitzen auf Stühlen, die im Kreis um ein rätselhaftes Instrument in der Saalmitte aufgestellt sind; die Köpfe in den Nacken gelegt, so dass der Blick wie aus eigener Kraft zur hohen, gewölbten Decke geht; und obgleich der Saal nur zur Hälfte gefüllt ist, durchfährt ihn gleichsam ein schwacher erwartungsvoller Schauer. Ulrike denkt an Bubi, der es sich angewöhnt hat, allmorgendlich blanke Lichtspiegel im Gras auszulegen, um den Himmel einzufangen, wenn die Sonne aufgeht , wie er es ausdrückte. (Renate: Wirklich ein seltsamer Junge, dein Spielkamerad, Ulrike. ) Jetzt wird das Licht gelöscht, die Dachkuppel verschwindet und an ihrer Stelle öffnet sich der Himmel. Eine schwere, feierliche Stimme spricht irgendwo hoch oben, und eine Kugel beginnt sich in der Luft zu drehen ( das ist die Erde, die Urheimat des deutschen Volkes … ). Neben ihr bewegen sich die beiden Frauen unlustig auf ihren Stühlen, Ulrike aber lässt sich nicht stören: rutscht nur noch tiefer in ihren Sitz. Dann geschieht das Seltsame, dass der Boden unter ihr gewissermaßen verschwindet, sie »schwebt«: hinein in eine riesige Sternenweite; ist auf allen Seiten von Sternen umgeben, es sind viele, viel mehr als jene, die sie vom Turmzimmer des Vaters im Haus in der Beethovenstraße sehen kann. Anders als diese bewegen sich die Sterne hier unablässig, bilden ständig neue Muster. Und die feierliche Stimme weist und erklärt ( das hier ist das Sternbild der Hydra, das hier ist der Löwe; die Kassiopeia, das leuchtende Auge des Stiers ) , und bei jedem Wort und Sternzeichen ist es, als wehe ein eiskalter Hauchvom hohen Himmelgewölbe herunter. Ulrike denkt: Das ist Gott, der da atmet , und wagt kaum selbst zu atmen.
*
(»Jedes Mal, wenn ein Mensch stirbt, wird ein neuer Stern am Himmel geboren.«)
Vermutlich hat Renate diese Worte gesagt, viele Jahre später, als die Mutter
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