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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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trotz der Vernichtung des Faschismus als Ideologie jene Menschen, die ihn getragen haben, nach wie vor auf einflussreichen Posten saßen.
    5. ZEUGE : Man kann sagen, was einst über Sophie Scholl gesagt worden war: »Bei ihr lagen die beiden Pole, einerseits eine klare Logik, andererseits eine überzogene Empfindsamkeit, weiter voneinander entfernt als bei den meisten Menschen.« Sie wurde von einem ungewöhnlich starken, manche würden sogar sagen fanatischen Rechtspathos angetrieben.
    6. ZEUGE : Dann heißt es: Eines Tages hat sie die Grenze überschritten.
    1. ZEUGE : Man kann nicht sagen, wie es dazu kam – auch wenn es versucht worden ist –, aus dem einfachen Grund, dass man die Grenze dafür erst definieren müsste. Hat man einen solchen Begriff erst einmal eingeführt, geht es nicht nur um eine Person, man spricht von all denen, die sich diesseits und jenseits dieser Grenze befinden.
    7. ZEUGE : Man kann sagen: Entweder war Ulrike Meinhof krank, oder die deutsche Gesellschaft insgesamt war krank.
    1. ZEUGE : Das Einzige, was man mit Gewissheit sagen kann, ist, dass sie die Grenze derart auszuweiten vermochte, dass eine solche Aussage möglich wurde.
    2. ZEUGE : Ihr Vater war Museumsdirektor in Jena. Er starb, als Ulrike fünf Jahre alt war …
    *
    So als sitze man in einem verdammten Affenkäfig. Nur dass nicht die Affen glotzen, sondern die dort draußen.
    Aber glotzt nur.
    Das dürft ihr gern.
    Was wollt ihr sehen?
    Arsch oder Möse?
    Wer keine Kleider hat,
geht mit dem Hintern nackt!
    Jetzt zufrieden?
    Die Öffnungszeiten sind um. Die Bürger sind der Sache leid, gähnen, wollen heim.
    Schlafenszeit. Schon lange Schlafenszeit.
    Nur dass. Dass ich
    Nicht wenn dieses verdammte Licht brennt!
Könnt ihr nicht wenigstens dieses verdammte LICHT ausschalten?

Köln-Ossendorf

    Acht Monate, vom 16. Juni 1972 bis zum 9. Februar 1973, sitzt Ulrike Meinhof in Untersuchungshaft in der Vollzugsanstalt Köln-Ossendorf, in jener Abteilung, die mal der »stille«, mal der »tote« Trakt genannt wird. Die Zelle ist weiß getüncht und vollkommen schallisoliert; das Licht brennt Tag und Nacht. Sie schreibt an ihre Kinder:
    Liebe Regine und liebe Bettina –
    Wisst ihr, was eine Zelle ist? Eine Zelle ist ein Zimmer mit einem Klo. Außerdem geht die Tür nur von außen auf und hat von innen weder eine Klinke noch ein Schlüsselloch. Die Tür ist auch viel größer als eine einfache Tür. Außerdem hat sie ein Guckloch. Ab und zu guckt ein Polizist durch das Loch, ob ich noch da bin. Bisher war ich jedes Mal da
    Sie schreibt. Wenn sie nicht schreibt, läuft sie umher und denkt. Manchmal ist ihr, als laufe und denke jemand anderes für sie. So ist es immer gewesen. Sobald eine Stimme in ihr das Für abwägt, erhebt eine andere Stimme von außerhalb Argumente dagegen; gerät darauf in Rage und schlägt wie ein Schulmeister mit dem Zeigestock aufs Katheder.
    Das da war wohl nicht sonderlich gut durchdacht, Ulrike.
    Nein.
    Das hättest du besser formulieren können.
    Es kommt darauf an, das gesamte Erkenntnisniveau der Bewegung 1967–1968 historisch zu retten; es kommt darauf an, den Kampf nicht abbrechen zu lassen.
    Das war wohl auch nicht so toll.
    Sie geht hin und her. Auch beim Gehen schreibt sie. Genau wie beim Liegen. Es gibt ein Bett in der Zelle, darauf eine Matratze; sie liegt auf dem Rücken auf der Matratze auf dem Bett. Und schreibt. Sie selbst ist nicht länger präsent hinter den Worten. Aber die Worte sind präsent. Als würden sie von jemand anderem geschrieben und ihr ins Gesicht zurückgeworfen. Sie schreibt:
    Liebe Regine und liebe Bettina –
Es ist alles sehr schwierig. Es ist alles sehr einfach.
    Als gäbe es jemanden da draußen, der versteht und die Fähigkeit hat zuzuhören. Das Einzige aber, was es gibt, ist das Auge jenseits der Tür. Das da sein kann oder auch nicht. Und dann dieses »Nie mit Sicherheit zu wissen«, dass man beobachtet wird. Es ist, als sitze man in einem verdammten Affenkäfig.
    Das aber schreibt sie nicht.
    Streckt sich stattdessen aus. (Auf dem Rücken auf der Matratze auf dem Bett.) Und ist unterwegs: Berlin , Kassel , Stuttgart , Hannover . Schwarze Umzäunungen aus Ziegel und Beton; verwandelt in Ruinenstädte, Militärfahrzeuge, die über zerschossene Straßen rumpeln: Jena , Berneck , Oldenburg , Münster , und ihre eigene Stimme als Kind, die mitten durch all die plötzlichen und scheinbar unmotivierten Aufbrüche fragt: Warum können wir nie irgendwo bleiben, Renate? Als

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