Tief im Herzen: Roman (German Edition)
müssen, sich wegen der Dinge, die sie in jenem düsteren Kapitel ihres Lebens getan hatte, keine Vorwürfe zu machen, sich nicht in Schuldgefühlen zu ergehen für den Schmerz, den sie den Menschen zugefügt hatte, die sie liebten. Schuld war ein negatives Gefühl. Und Anna zog positive Handlungen und Ergebnisse vor.
Was sie erreicht hatte, hatte sie für ihre Großeltern, ihre Mutter und für das verängstigte Kind getan, dem so übel mitgespielt worden war.
Es hatte viel Zeit gekostet zu verstehen, daß nicht nur sie ihre Mutter, sondern ihre Großeltern auch ihr einziges Kind verloren hatten. Ihre Tochter, die sie liebten. Trotz ihres Kummers nahmen sie Anna in ihr Heim auf; trotz ihres destruktiven Verhaltens hatten die Großeltern ihre Herzen Anna gegenüber nie verschlossen.
Schließlich lernte sie, den Verlust, die Schrecken, die sie erlebt hatte, zu akzeptieren. Sie wußte, daß alles, was sie später getan hatte, auf die erlittenen Verletzungen zurückzuführen war. Sie hatte Menschen gefunden, die sie genug liebten, um ihr bei der Heilung zu helfen.
Und nachdem sie auf dem richtigen Weg war, hatte sie sich versprochen, nie wieder kopflos zu handeln. Ihre Spontaneität hob sie sich für Nebensächlichkeiten auf. Es war so wichtig für sie geworden, vernünftig und praktisch zu handeln, daß sie den spontanen Teil ihres Wesens tief vergraben hatte. Und jetzt, dachte sie, spielte dieses Herz verrückt.
Cameron Quinn zu lieben, war völlig unvernünftig. Und sie wußte, daß sie diese Liebe sehr viel kosten würde.
Aber für ihre Gefühle war sie selbst verantwortlich. Das hatte sie auf die harte Tour lernen müssen. Sie würde sie in den Griff kriegen, und sie würde es überleben.
Anna lehnte sich gegen die offene Balkontür, um die abendliche Brise zu spüren. Sie hatte immer geglaubt, daß sie, wenn sie sich einmal verliebte, jede einzelne Phase bewußt miterleben würde. Sie hatte gehofft, alles genießen zu können – das allmähliche Hineingleiten, das gegenseitige Erkennen der sich vertiefenden Gefühle.
Aber mit Cam war es kein allmähliches Gleiten, kein sanftes Versinken gewesen, sondern ein schneller, harter Sturz. Zuerst hatte sie Anziehung, Interesse, Genuß empfunden. Und kaum hatte sie einmal geblinzelt, da war sie auch schon Hals über Kopf verliebt.
Sie nahm an, daß es ihn zu Tode erschrecken würde, wenn er es wüßte, daß es ihn dazu bringen würde, möglichst schnell das Weite zu suchen. Diese Vorstellung brachte sie ein wenig zum Lachen. In diesem Punkt paßten sie gut zusammen, dachte sie. Ja, sie selbst würde jetzt nur zu gern davonlaufen. Auf eine Affäre war sie vorbereitet gewesen, jedoch nicht auf eine Liebesgeschichte.
Also analysiere, befahl sie sich. Was an ihm war so anders? Sein Aussehen? Sie seufzte lustvoll und schloß die Augen. Ja, sein Äußeres hatte zuerst ihre Aufmerksamkeit geweckt. Welche Frau würde bei ihm nicht zweimal hinsehen? Welche Frau konnte bei seinen ruhelosen stahlgrauen Augen, seinem festen Mund, der gleichermaßen anziehend war, ob er nun fröhlich oder spöttisch lächelte, gleichgültig bleiben? Sein Köper erfüllte alle weiblichen Fantasien. Doch nicht nur seine Figur war anziehend, auch sein rascher Verstand hatte sie fasziniert, und seine Arroganz. Wenn auch dieser Gedanke weniger schmeichelhaft war. Doch es war sein Herz, das alles verändert hatte. Mit einem so großen Herzen hatte sie nicht gerechnet – er war geradezu beängstigend gefühlvoll. Er hatte soviel zu geben und wußte es nicht.
Er hielt sich für selbstsüchtig, hart im Nehmen und kalt. Es war durchaus vorstellbar, daß er das auch sein konnte. Doch es überwogen seine Wärme und Großzügigkeit. Er wußte nicht, wieviel er Seth gab und wohin sich seine Beziehung zu dem Jungen entwickelte. Sie bezweifelte, daß er durchschaute, wie sehr er Seth liebte. Und Anna begriff, daß dieses Nichtwissen um sein eigentliches Wesen die Ursache dafür war, daß er sie endgültig erobert hatte. So war es doch eigentlich nur vernünftig gewesen, sich in ihn zu verlieben. Aber auf Dauer in ihn verliebt zu bleiben, das würde katastrophale Folgen haben. Daran würde sie arbeiten müssen.
Das Telefon läutete und riß sie aus ihren Gedanken. Sie ging mit ihrem Glas wieder in die Wohnung zurück und griff zu dem tragbaren Telefon auf dem Couchtisch. »Hallo?«
»Ms. Spinelli, in die Arbeit vertieft?«
Sie lächelte. »Ich arbeite, ja.« Sie setzte sich und legte die Füße auf den
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