Tief im Herzen: Roman (German Edition)
der.«
»Während des ganzen ersten Jahres fragten Stella und ich uns vor dem Einschlafen, ob du am nächsten Morgen noch da sein würdest.«
»Wenigstens wart ihr zu zweit. Und …«
Cams Hand, die den Hammer hielt, fiel herunter. Seine Finger gaben einfach nach, bis das Werkzeug mit dumpfem Aufprall neben ihm auf dem Boden landete. Dort in dem alten, knarrenden Schaukelstuhl auf der hinteren Veranda saß Ray Quinn. Auf seinem breiten Gesicht lag ein Lächeln, das von einer zerzausten weißen Mähne eingerahmt
war. Er hatte seine geliebte graue Anglerhose an und ein verschossenes graues T-Shirt mit einem knallroten Hummer auf der Brust. Seine Füße waren nackt.
»Dad?« Cam war kurz schwindelig und übel, doch dann barst sein Herz schier vor Freude. Er sprang auf.
»Du hast doch nicht gedacht, daß ich dich damit allein lasse, oder?«
»Aber …« Cam schloß die Augen. Er hatte Halluzinationen, erkannte er. Es lag am Streß, an der Müdigkeit und am Kummer.
»Ich hab’ immer versucht, dir beizubringen, daß das Leben voller Überraschungen und Wunder ist. Ich wollte, daß du aufgeschlossen bist, nicht nur dem gegenüber, was möglich ist, Cam, sondern auch dem gegenüber, was unmöglich scheint.«
»Daß es Geister gibt? Himmel!«
»Warum nicht?« Diese Vorstellung schien Ray ungeheuer zu erheitern, und er ließ sein tiefes, rauhes Lachen hören. »Lies mal in der Literatur nach, mein Sohn. Die ist voll davon.«
»Das kann nicht sein«, murmelte Cam.
»Ich sitze doch hier, reicht dir das nicht als Beweis? Ich habe hier zu viele Dinge unerledigt zurückgelassen. Jetzt liegt es an dir und deinen Brüdern, aber wer sagt denn, daß ich euch nicht hin und wieder ein wenig helfen kann?«
»Helfen. O ja, ich werde bald ernsthaft Hilfe brauchen, angefangen mit einem Psychiater.« Ehe seine Beine unter ihm nachgeben konnten, balancierte Cam über die defekten Stufen und ließ sich auf der Veranda nieder.
»Du bist nicht verrückt, Cam, bloß verwirrt.«
Cam holte tief Luft, um sich zu fangen, und betrachtete dann den Mann, der träge auf dem alten Holzstuhl hin-und herschaukelte. Der Große Quinn, dachte er. Er wirkte lebendig und real.
»Wenn du wirklich hier bist, erzähl mir von dem Jungen. Ist er wirklich dein Sohn?«
»Er gehört jetzt zu dir. Zu dir, zu Ethan und zu Phillip.«
»Das reicht nicht.«
»Aber natürlich reicht das. Ich verlasse mich auf jeden einzelnen von euch. Ethan nimmt die Dinge, wie sie kommen, und macht stets das Beste daraus. Phillip klärt die Details und bringt sie in einen Zusammenhang. Du übst Druck aus, bis alles so läuft, wie du es dir vorstellst. Der Junge braucht euch alle drei. Wichtig ist nur Seth. Wichtig seid jetzt ihr alle.«
»Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll«, sagte Cam ungeduldig. »Ich weiß nicht, was ich mit mir selbst anfangen soll.«
»Wenn du das eine herausfindest, findest du auch das andere heraus.«
»Verdammt, sag mir, was passiert ist. Sag mir, was hier los ist.«
»Deshalb bin ich nicht hier. Ich kann dir zum Beispiel auch nicht sagen, ob ich Elvis gesehen habe.« Ray grinste, als Cam gegen seinen Willen lachen mußte. »Ich glaube an dich, Cam. Gib Seth nicht auf. Und gib dich nicht auf.«
»Ich weiß nicht, wie ich all das bewältigen soll.«
»Bring erst mal die Stufen in Ordnung«, sagte Ray und zwinkerte ihm zu. »Das ist ein Anfang.«
»Zum Teufel mit den Stufen«, begann Cam, doch er war wieder allein mit dem Gesang der Vögel und dem sanften Plätschern des Wassers. »Ich verliere den Verstand«, murmelte er und fuhr sich unsicher mit der Hand übers Gesicht. »Ich verliere meinen verdammten Verstand.«
Und er stand auf und machte sich daran, die Stufen zu reparieren.
Anna Spinelli hatte das Radio laut aufgedreht. Aretha Franklin sang lauthals aus ihrer millionenschweren Kehle und forderte Respekt. Anna sang mit, sie war durch und durch entzückt von ihrem funkelnagelneuen Wagen.
Sie hatte hart gearbeitet, hatte eisern gespart und mit ihrem
Einkommen jongliert, um sich die Anzahlung und die monatlichen Raten leisten zu können. Und sie wußte, daß er jeden Becher Yoghurt wert war, den sie sich anstelle eines richtigen Essens einverleibte.
Trotz der kalten Frühlingsluft hätte sie es vorgezogen, mit heruntergeklapptem Verdeck über die Landstraßen zu brausen. Aber es würde keinen guten Eindruck machen, wenn sie mit zerzaustem Haar ankäme. Und korrektes Benehmen und Auftreten war das allerwichtigste.
Für
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