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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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    |9| Nase und Lippe
    Jonas’ Gesicht war fahl und starr. Sobald Vera zwischen den Häuserblocks verschwunden war, ließ er seinen Rucksack von der
     Schulter gleiten und kniete sich neben den Kanaldeckel. Die Teerdecke war tiefschwarz, so neu war die Straße, die hinter der
     Hochhaussiedlung zu einer riesigen Baugrube führte. Durch den Stoff der Hose spürte Jonas die Wärme, die der Teer abstrahlte.
     Es war ein heißer Tag gewesen. Viel zu heiß für die Jahreszeit. Vom nahe gelegenen Klärwerk wehte eine Bö fauligen Gestank
     herüber.
    Im letzten Licht der untergehenden Sonne leuchteten Jonas’ Haare wie dunkler Honig. Sie waren weder braun noch blond, irgendwas
     dazwischen. Für seine zwölf Jahre war Jonas nicht besonders groß, den gedrungenen Körper verbarg die weite Kleidung. Das Auffälligste
     an ihm war die Nase. Als ob sie sich vorgenommen hätte, ein Korkenzieher zu werden – so verdreht saß sie in seinem Gesicht.
    Jonas zog eine Eisenstange aus dem Rucksack. Eine kleine Brechstange. Ein kurzer Blick über die Schulter, dann setzte er die
     Stange an und stemmte den Kanaldeckel mit knallrotem Kopf in die Höhe. Rot vor Anstrengung und Wut.
    ›Kleiner Scheißer‹ hatte ihn Vera mal wieder genannt. Sie war drei Jahre älter als Jonas, und wenn |10| jemand fett war, dann Vera mit ihrem breiten Kreuz und der Catcherfigur. Für ihr Alter war sie viel zu schwer und groß. Sie
     hatte ihm gedroht. Mit nichts Bestimmtem, aber das war fast noch schlimmer. Jonas stellte sich dann zum Beispiel vor, dass
     sie nachts, während er schlief, an sein Bett kommen und ihn fesseln würde, um dann seine Finger- und Zehennägel zu lackieren.
     In diesem scheußlichen Grün, mit dem ihre Finger wie die Krallen einer Echse aussahen.
    Dabei wusste Vera genau, dass heute Freitag war; da musste er erst um acht zu Hause sein. In zwei Stunden also.
    »Wenn ich dich nachher wieder in der Dunkelheit suchen muss«, hatte sie gezischt, »dann muss ich dich bestrafen, aus pädagogischen
     Gründen.« Pädagogische Gründe! Das sagte sie immer, wenn es besonders fies wurde. »Aber du hast Glück. Heute hab ich keinen
     Bock auf Pädagogik, sondern was Besseres vor.«
    ›Na hoffentlich‹, dachte Jonas. ›Blöde Dreckskuh.‹ Daheim würde sie bestimmt wieder Lügen erzählen. So wie neulich. Da hatte
     sie erzählt, Jonas wäre noch nicht da, weil er gerade kleine Kinder durchprügele. Dabei war sie es, die beim geringsten Anlass
     zuschlug.
    Trotzdem war Jonas’ Vater immer nett zu ihr. Weil sie es ja so schwer hatte und sich erst an seine neue Frau, Jonas’ Mutter,
     und ihren neuen Bruder gewöhnen musste.
    Von wegen Bruder. Halbbruder, wenn überhaupt!
    Mehr als zwei Jahre war Vera jetzt schon bei ihnen. Vorher hatte sie bei ihrer Mutter gelebt, und dort |11| hätte sie auch bleiben können, wenn es nach Jonas gegangen wäre. Sie war fies und unheimlich. Einmal war er am Badezimmer
     vorbeigekommen und hatte gehört, wie sie mit sich selbst gesprochen hatte. »Ich brauch DICH nicht und du brauchst MICH nicht.
     Deshalb bin ich, wo ich bin, und du, wo du bist.« Immer wieder hatte sie das gesagt.
    Inzwischen hatte er den Kanaldeckel zur Seite gewuchtet. Aus dem Rucksack nahm er eine Taschenlampe, klemmte sie zwischen
     die Zähne, setzte sich den Rucksack wieder auf und stieg in den Schacht.
     
    Eine schmale Mondsichel hing im tiefen Blau der Dämmerung über einem schwarzen Loch in der Teerdecke. Ein Loch, das soeben
     einen Jungen samt Rucksack verschluckt hatte.
     
    Die Röhre war aus kahlem Beton, der noch keine Spuren von Verwitterung zeigte, dazu war der Schacht, genau wie die Straße,
     zu neu. In den Beton waren eiserne Krampen eingelassen. Das Eisen war so kalt, dass Jonas auf einmal Angst hatte, seine Finger
     würden so steif werden, dass er sich nicht mehr halten könnte. Bis auf den kleinen Lichtfleck der Taschenlampe direkt vor
     ihm auf der Wand war es stockfinster. Aus den Mundwinkeln floss ihm der Speichel, weil er mit der Lampe im Mund nicht schlucken
     konnte. Endlich erreichte er den Grund des Schachtes. Er nahm die Lampe aus dem Mund und sah sich um.
    |12| Ein Sims verlief wie ein schmaler Bürgersteig auf halber Höhe einer waagrechten Betonröhre, die links und rechts in der Dunkelheit
     verschwand. Die Röhre war leer und trocken und so breit wie eine schmale Straße. Jonas ging das Sims entlang nach rechts:
     immer dem Gestank nach.
    Die Schwärze um ihn herum war undurchdringlich,

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