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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Seine Rückenlinie war ungefähr
     auf der Höhe von Jonas’ Turnschuhen.
    Auf einmal schlugen Jonas stinkende braune Tropfen mitten ins Gesicht. Der Tiger schüttelte sich.
    »Saubär!«, heulte jemand hinter Jonas. Lippe.
    Auch der Tiger hatte bei dem Wort ›Saubär‹ den Kopf gewandt. In der Dunkelheit blitzten seine Zähne. Ein dunkles Grollen,
     gemischt mit einem hohen Krächzen, drang aus seiner Kehle. Fast klang es, als würde sich der Tiger räuspern. Er schluckte
     und schüttelte den Kopf, als wollte er etwas ausspucken, das ganz tief in seiner Kehle saß. ›Jetzt kotzt er‹, dachte Jonas.
    |23| Doch es kam etwas anderes aus seinem Rachen.
    »Ich bin wohl eher ein Tiger als ein Bär.«
    Jonas packte Lippes Arm, und Lippe packte Jonas.
    Die Stimme war hoch und brüchig, fast weinerlich, wurde aber immer wieder gebrochen von tiefen Knurr- und Grolllauten: »Ich
     heiße Kunigunde Ohm.«
    Es folgte eine Art meckerndes Grollen. Ein schauderhaftes Geräusch. Der Tiger lachte.
    Mit gesträubten Haaren und offenen Mündern standen Jonas und Lippe an die Tunnelwand gepresst. Das gab es doch nicht. Das
     konnte es doch einfach nicht geben! Das gab es genauso wenig wie sprechende Fliegen, Hunde, Mäuse oder Katzen. Tiere können
     nicht sprechen! Nie.
    Der Tiger saß da und starrte die beiden Kinder an. ›Wir müssen etwas sagen‹, dachte Jonas. ›Egal was, zum Beispiel:
Angenehm , mein Name ist Jonas, und das ist mein Freund Philipp.
Oder:
Erfreut , Sie kennenzulernen.
Oder wenigstens:
Sie können ja sprechen
.

    Nur nicht nichts sagen!
    Aber es hatte ihnen die Sprache verschlagen …
    »JONAS!«, gellte es in diesem Moment dumpf durch die Kanalisation aus der Richtung, aus der Jonas gekommen war. »Wenn du nicht
     sofort rauskommst, ruf ich die Bullen!«
    »Scheiße, meine Schwester!«, flüsterte Jonas.
    Zum ersten Mal war er ihr dankbar. Sie hatte die Stille gebrochen.
    »Ich muss sofort heim.«
    |24| »Aber der Tiger«, flüsterte Lippe. »Du musst an dem Tiger vorbei. Wie willst du das anstellen?«
    »Keine Ahnung.«
    »JONAS! Komm da raus!«, hallte es wieder durch die Röhre. »Ich hab’s eilig.«
    Der Tiger saß unbeweglich da und beobachtete die beiden Jungen.
    »Ich muss gehen. Unbedingt«, drängte Jonas.
    »Ich komm mit«, sagte Lippe. »Ich frag ihn einfach, ob er uns vorbeilässt, ganz höflich.«
    Jonas nickte.
    »Verehrte Großkatze«, stammelte Lippe. »Äh, dürfen wir vorbei?«
    Ein rauer, heiserer Laut war die Antwort, fast ein Schluchzen, dann wandte sich der Tiger ab und ließ sich auf den Röhrenboden
     plumpsen.
    Die Jungen stolperten los.
    Als der Kopf des Tigers direkt unter ihm war, murmelte Jonas: »Vielen Dank, Frau Ohm.«

[ Menü ]
    |25| Braut der Finsternis
    Jonas stemmte sich aus dem Schacht nach oben. Die frische Luft machte ihn ganz benommen. Er sank auf den Teer, Lippe fiel
     neben ihn. Am liebsten hätte Jonas nie mehr ausgeatmet, nur noch eingeatmet, so frisch und süß schmeckte jeder Atemzug. Leider
     wurden sie nicht nur von der lauen Nacht empfangen – zwei seltsame Gulliwächter in funkelnden Rüstungen standen, einer links,
     einer rechts, neben dem Schacht: Veras Glitzerstiefel. Aus den Augenwinkeln nahm Jonas wahr, wie Vera ihr Handy in die Manteltasche
     gleiten ließ. Mit eigenartig verzogenem Gesicht stand sie über ihnen. Ärger und Triumph glänzten in ihren Augen.
    »Wegen dir kleinem Scheißer komm ich jetzt zu spät!«
    Jonas wollte schreien: »Vera, vergiss alles, was du vorhast! Da unten ist ein lebendiger Tiger. Ein Tiger, der spricht! Hilf
     uns!« Aber Veras Stimme klang so giftig, dass Jonas nur leise stöhnte. Dem Tiger waren sie entronnen, nur um einer Viper in
     die Fänge zu geraten.
    Vera hatte sich dunkle Ringe um die Augen geschminkt. Wahrscheinlich dunkelgrün. Trotz der dicken Schicht Schminke sah Jonas
     deutlich ihre vielen Pickel. Jeder warf einen kleinen Schatten im schrägen Mondlicht.
    »Eigentlich ist jetzt eine kleine Strafaktion fällig«, |26| zischte Vera. »Du weißt ja, aus pädagogischen Gründen. Du hast Glück, dass ich’s eilig hab und mir jetzt nicht die Hände an
     euch beiden Scheißhaufen schmutzig machen will.« Sie stieß ein belustigtes Grunzen aus. »Obwohl – so ein Hauch Kanalisation
     wäre heute vielleicht sogar ganz passend …«
    Jonas war noch immer so durcheinander, dass Veras Beleidigungen nur wie ein fernes Säuseln in seine Gedanken drangen; er sah
     an ihr vorbei in den Himmel. Richtig schwarz

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