Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
hier. Durch die Enge des Raumes lag parfümierter Rauch in der Luft. Annas Hals kratzte, und sie hustete.
Lian musterte sie forschend und öffnete das Fenster. Die frische Brise war mehr als wohltuend. Tief sog Anna die Luft ein, und obwohl das Haus am anderen Ende der Stadt stand, roch der Wind nach Meer und Salz.
Anna wusste, dass es sinnlos war, mit Lian zu reden, da sie kein Chinesisch und Lian kein Englisch sprach, dennoch versuchte sie, mit Lian zu kommunizieren.
„Lian, diese Männer, wer sind sie?“
Lian lächelte und machte sich daran, Tee aus einer Kanne auf dem Tisch in winzige Teeschalen zu gießen.
Anna berührte Lians Hand.
„Lian, Männer!“ Sie deutete nach unten. „Wer sind sie?“
Die Konkubine lächelte und goss unbeirrt Tee ein.
„Männer!“ Sie machte dieselbe Handgeste wie vorher.
Lian schüttelte traurig den Kopf. „H uàirén. “
Anna runzelte die Stirn. „Was bedeutet das?“
„H uàirén “, wiederholte die Frau und machte eine Geste, die nicht misszuverstehen war. Schlecht, böse.
Ein kalter Schauer lief Anna über den Rücken.
In was war Christopher hineingeraten?
Ungeduldig wartete Anna darauf, dass der Besuch das Haus verließ, um Christopher danach zu fragen. Doch kaum gingen die Fremden, verschwand Christopher ebenfalls.
Anna stand am Fenster und starrte hinaus. Über den Dächern Schanghais versank die Sonne, und nicht zum ersten Mal vermisste Anna London entsetzlich.
Hier war alles so fremd! Und damit nicht genug, sie durfte auch keinen Schritt aus dem Haus machen. Chinesischen Frauen war es verboten, sich allein in der Öffentlichkeit zu zeigen. Christopher galt in Schanghai als reicher chinesischer Kaufmann, und als Gemahlin eines solchen hätte Anna in einer Sänfte durch die Straßen getragen werden müssen, neben den Sänftenträgern unter Begleitschutz einiger Leibwächter.
War die Aussicht in dem schaukelnden, verhängten Tragestuhl durch die Straßen transportiert zu werden, schon unangenehm, hielt sie die Notwendigkeit der Leibwächter zusätzlich von Erkundungstouren ab.
Anna seufzte.
„ Taitai ?“
Sie drehte sich um und sah sich Lian gegenüber. Die hübsche Konkubine musterte Anna aus hochgezogenen Augenbrauen. Sie berührte Anna am Arm und machte eine auffordernde Handbewegung. „ Láiba !“
Anna legte ihren Kopf schief und folgte der Frau. Sie gingen in den Trakt der Konkubinen. Dort wartete Bao bereits, und die anderen Damen saßen auf einer ausgebreiteten Decke auf dem Boden. In der Mitte standen chinesische Knabbereien und Süßigkeiten.
Anna setzte sich auf den Platz, den ihr die Konkubinen ehrfurchtsvoll zuwiesen.
Sie dankte den Frauen lächelnd. Die Chinesinnen schlugen kichernd die Augen nieder.
Lian ergriff das Wort, und Bao übersetzte.
„Wir haben bemerkt, dass die taitai Sorgen hat. Du behandelst uns mit größerem Respekt als uns zusteht, das hier ist ein Dankeschön und der Versuch, dich von deinem Kummer abzulenken.“
Jiao erhob sich geschmeidig und überreichte Anna eine kleine Schriftrolle. Anna dankte ihr, doch ehe sie die Rolle auspacken konnte, hielt Bao Anna zurück.
„Es ist nicht üblich, Präsente vor dem Schenkenden auszupacken.“
„Danke, Bao.“ Statt die Rolle zu öffnen, drückte sie das Geschenk an ihr Herz und lächelte Jiao an.
He Xien erhob sich und überreichte Anna einen Seidenfächer. Anna dankte He Xien auf dieselbe Weise.
Chun stand auf. Anna bemühte sich, ihr ein ebenso herzliches Lächeln zu schenken wie den anderen beiden. Sie mochte die Frau nicht. Sie hatte etwas an sich, das Anna ein ungutes Gefühl verursachte.
Die Chinesin verneigte sich und griff nach ihrer Pipa.
„Sie spielt Euch eine Dongxiang-Ballade vor.“
Anna nickte und lauschte aufmerksam und interessiert. Nun wusste sie, wen sie an jenem ersten Abend singen und spielen gehört hatte.
Als Chun endete, verbeugte sie sich und ließ sich graziös auf der Decke nieder. Sie warf Anna einen listigen Blick zu, den Anna nicht verstand, doch sie merkte, dass die anderen Frauen Chun böse anstarrten, ehe sie sich Anna freundlich zuwandten.
Lian trat vor und verneigte sich vor Anna, während sie ihr gleichzeitig das größte Paket des Abends reichte.
„Ich bitte die taitai , es gleich zu öffnen!“, übersetzte Bao.
Anna tat Lian den Gefallen und enthüllte ein dunkelblaues Seidengewand. Sie hob es hoch und bewunderte es.
„Es ist wunderschön, Lian. Ich danke dir vielmals!“
Lian neigte den Kopf und
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