Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
scheint mir. Du bist auf einmal der exotische Chinese, den der ton in dir sieht.
Ich schaue dich an und erkenne, dass du vielleicht englisches Blut hast, doch im Grunde gehörst du hierher, nach China.“ Annas Augen füllten sich mit Tränen. „Und ich spüre mit jedem Tag mehr, dass ich nach England gehöre.“
Wortlos zog Christopher sie in seine Arme.
Der Schmerz, der die letzten Wochen in ihr gegärt hatte, entlud sich in einer stillen Flut heißer Tränen.
„Anna“, flüsterte Christopher an ihrem Ohr. „ Qíngfù , meine Geliebte“,
Er zog sie eng an seinen Körper, auf seinen Schoß, und vergrub seine Nase in ihrem Haar.
Die Zärtlichkeit, mit der er sie umfing, ließ ihre Tränen langsam versiegen.
„Ich liebe dich, Anna. Gib mir Zeit, ich habe ein paar Dinge zu erledigen, doch danach verspreche ich dir, eine Lösung zu finden. Ich werde dich nicht zwingen, in Schanghai zu bleiben, Tigerlilie.“
Die Tränen strömten erneut. Annas Herz wurde schwer. Sie wusste, wie wankelmütig sie erscheinen würde, wenn sie gestand, dass sie Schanghai auch nicht verlassen wollte.
Nicht, wenn Christopher dort bliebe.
Die Diener trugen Truhen mit Annas Kleidern in die Räume der Konkubinen. Anna folgte ihnen mit Bao im Schlepptau.
Die vier Konkubinen musterten sie fragend, und Anna lächelte ihnen zu.
Obwohl Anna Bao ständig als Übersetzerin um sich hatte, war sie mittlerweile fähig, mit Gesten und Mimik und einzelnen Wortbrocken eine rudimentäre Unterhaltung zu bestreiten. In diesem Fall war sie jedoch froh, dass Bao für sie übersetzen konnte.
„Sag ihnen doch bitte, dass ich mich für ihre Hilfe in die Verwandlung in eine Chinesin revanchieren möchte. Ich habe meine Sachen herschaffen lassen, damit ich im Gegenzug jede von ihnen wie eine Engländerin kleiden und frisieren kann.“
Bao übersetzte, und Jiao, He Xien und Lian klatschten begeistert in die Hände. Offensichtlich waren sie ebenso wie Anna froh um jede Abwechslung.
Chun jedoch blieb mit stoischer Miene auf ihrem Stuhl sitzen und spielte unbeeindruckt auf ihrer Pipa als gäbe es nichts Wichtigeres.
„Was ist mit Chun?“
Bao redete mit Chun und wandte sich kurz darauf wieder an Anna, der der verächtliche Blick Chuns nicht entgangen war.
„Sie möchte das nicht“, erklärte Bao.
Anna sah zu den anderen drei Konkubinen, doch die schienen an Chuns Griesgrämigkeit gewohnt zu sein und beachteten sie nicht weiter. Achselzuckend kümmerte sich Anna um die anderen, half ihnen bei der Kleiderauswahl, beim Anziehen und frisierte gemeinsam mit Bao die Konkubinen.
Anna genoss den Nachmittag in vollen Zügen, und auch die Chinesinnen begeisterten sich. Besonders Jiao war hingerissen von dem gelben Chemisenkleid, das sie trug.
„Anna Drysdale?“ Unbemerkt war Long Tian eingetreten und stand hinter Anna.
„Drysdale- laoye erwartet Eure Gesellschaft zum Abendessen.“
Anna schenkte Long Tian ihre Aufmerksamkeit. „Nur meine?“
„Selbstverständlich“, erklärte der Chinese steif.
Anna seufzte. „Ich komme.“
„Was hältst du davon, dir morgen einmal den Markt anzusehen?“ Christopher musterte sie über den Rand seines Bechers hinweg fragend.
„Nur ich?“
„Selbstverständlich nur du!“ Christopher verbesserte sich rasch. „Zusammen mit den Sänftenträgern und Leibwächtern.“
Anna winkte ab. „Um Himmels willen, nein. Schon bei dem Gedanken an das Schwanken und die Enge wird mir übel.“ Sie sah verstohlen zu ihm und bemerkte, dass er unschlüssig wirkte. Er wusste, dass sie nicht eingesperrt sein wollte. Dass die Sänfte für sie ein Problem war, hatte er nicht erwartet.
Er seufzte. „Änderst du deine Meinung, wenn dich eine der Konkubinen begleiten dürfte?“
Anna unterdrückte ein Lächeln. „Ich würde nicht wollen, dass sie wegen mir im Haus bleiben müssen.“
„Wie großzügig von dir“, bemerkte Christopher trocken. „Dann wird Jiao mitkommen“,
Anna runzelte die Stirn. Sie hätte Lian bei ihrem Ausflug in die Freiheit dabei haben wollen. „Weshalb Jiao?“
„Lian ist verschwenderisch, Chun würde sich ohnehin weigern, und He Xien wäre eifersüchtig, wenn Lian den Vortritt erhielte. Ließe ich He Xien als Erste mit dir auf den Markt, fühlte sie sich wiederum Lian überlegen“, erklärte Kit.
Anna zog die Nase kraus. „Mir scheint, du hast eine Menge Probleme, die du nicht hättest, lebtest du monogam.“
Christopher ergriff ihre Hand und küsste ihr Handgelenk. „Ich lebe
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