Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Tempo. Der Geruch nach Algen, Fisch und Salzwasser erfüllte die Kabine. Das Geräusch der Brandung war zu vernehmen.
Die Kutsche stoppte, und der Verschlag öffnete sich. Christopher half den Frauen beim Aussteigen. Jetzt sah Anna, dass sie im Hafen angekommen waren. Das Schiff lag noch genauso vor Anker, wie sie es zurückgelassen hatten. Ein Ruderboot mit zwei Seeleuten erwartete sie. Sie stiegen ein und ließen sich von den Matrosen zum Schiff rudern. Anna kuschelte sich an Christopher. Erleichtert, dass nun alles überstanden war.
Anna und Christopher standen am Heck des Segelschiffes und sahen auf das Festland hinüber, das als dünner Streifen am Horizont lag.
Christopher legte seine Arme um sie, und Annas Rückseite lehnte an ihm.
„Warum haben uns diese Männer überfallen?“
„Sie sind Mitglieder eines Geheimbundes. Sie wollten mich zwingen, Opium zu schmuggeln.“ Christopher schwieg. „Ich dachte, wir entkämen rechtzeitig. Ich hatte bereits alles für eine Flucht vorbereitet.“
Die Erleichterung, überlebt zu haben, mischte sich mit Melancholie. Anna sah über die Schulter zu Christopher. „Es gibt kein Zurück. Nicht wahr?“
Christopher zuckte mit den Achseln. „Nein.“
Sie schwiegen.
Anna schloss einen Moment die Augen. Sie fühlte sich schuldig.
„Es tut mir leid, dass du dein Zuhause verloren hast.“
Sie spürte das Zittern, das durch Christophers Körper lief. Er schob sie ein Stückchen fort und zwang sie, sich ihm zuzuwenden. Seine tiefgrünen Augen musterten Anna mit jener Intensität, die sie immer noch zum Zittern brachte. Die Wärme seiner Gegenwart hüllte sie ein, und die Liebe, die sie für ihn empfand, wurde so übermächtig, dass es ihr Herz fast sprengte.
„Glaubst du, dort lägen meine Wurzeln?“
Anna schluckte. „Dein Herz gehört China. Dort hast du es verloren.“
Ein feines Lächeln umspielte Christophers Lippen. Sie hatte diesen Gesichtsausdruck bereits einmal gesehen. Damals, als er sie das erste Mal in ihrem Elternhaus aufgesucht hatte.
„Aber ich habe mein Herz nicht verloren.“ Sein Lächeln wurde breiter, und die Liebe leuchtete in seinem Gesicht.
„Ach nein?“ Anna räusperte sich und verlor sich in Christophers intensivem Blick.
Christopher nahm ihre Hände und drehte die Handflächen nach oben. „Nein“, bekräftigte er. Er küsste die Innenflächen sanft, und Wärme wanderte Annas Arme entlang. „Denn mein Herz ist genau da, wo es hingehört: in deinen Händen, Tigerlilie.“
ENDE
justify
Ivy Paul wurde 1975 im nebligen Augsburg geboren. Die Nabelschnur der schönen Patrizierstadt erwies sich seither als äußerst reißfest, und so hat sich der Wirkungskreis der zweifachen Mutter nie nennenswert verlagert. Eine Treue, die sich bezeichnenderweise auch auf ihr liebstes Hobby, das Schreiben erstreckt. Sollte eine Schaffenskrise ausbrechen, überwindet sie diese mit ihren zweitliebsten Hobbys: Seife sieden, Anrühren duftender Cremes oder Backen. Beim Schaffen soviel sinnlicher Genüsse dauert es nie lange, bis die Tastatur wieder klappert.
Website: www.ivypaulsfantasiewelten.blogspot.com
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