Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
und küsste. Sie löste die Umarmung, zog Anna zu den anderen Konkubinen und stellte sie ihr vor. Bao folgte ihnen und übersetzte alles.
Die Frau an der Pipa hieß Chun. Die sanft gerundete Chinesin mit dem süßen Lächeln und den Grübchen hörte auf den Namen Jiao, die andere auf He Xien.
Jiao und He Xien waren Anna auf Anhieb sympathisch.
Chun hingegen wusste sie nicht einzuordnen. Zwar schien sie Anna mit Ehrfurcht zu begegnen, doch etwas in ihren Augen gefiel Anna nicht, ohne dass sie es näher benennen konnte. Sie war froh, dass Chun sich auf den Stuhl in die hintere Ecke zurückzog und auf der lautenähnlichen Pipa weiterspielte.
Als Christopher zurückkehrte, empfing ihn Long Tian ungeduldig. Aus dem Speisezimmer drangen fröhliche Frauenstimmen und Geklapper.
„Haben wir Besuch?“
Long Tian schüttelte den Kopf. „Eure Gemahlin hat Bekanntschaft mit den Konkubinen gemacht.“
Christophers Magen zog sich zusammen. Der Tag, der schlecht begonnen hatte, war immer katastrophaler geworden und offenbar noch nicht vorbei. Er unterdrückte ein Stöhnen. Das Letzte, wonach ihm der Sinn stand, war eine Auseinandersetzung mit Anna oder ein Treffen mit seinen aufgebrachten Konkubinen.
Er lauschte. Die Geräusche aus dem Speisesaal klangen recht friedlich.
„Wie hat Anna es aufgenommen?“
„Erstaunlich gefasst für eine Europäerin. Allerdings hat sie die vier Konkubinen sofort aufgesucht und sitzt nun mit ihnen beim Essen.“
Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte Christopher sich erleichtert. Wenigstens zu Hause erwartete ihn keine Katastrophe.
„Wie verlief Euer Treffen mit der Bruderschaft des Lotus, laoye ?“
„Nicht hier, wo die Wände Ohren haben.“
Christopher und Long Tian gingen in seine Privatgemächer, wo er die formelle Kleidung ablegte und sich wusch, ehe er in eine bequeme Robe schlüpfte.
„Man setzt mir ein Ultimatum“, erzählte er seinem Freund und Diener, während er sich ankleidete.
„Die Bruderschaft lässt nicht mit sich spaßen.“ Die Warnung in Long Tians Stimme war nicht zu überhören.
Christopher fluchte.
„Was werdet Ihr tun?“
Christopher zuckte mit den Schultern. Er ließ sich ungern unter Druck setzen, aber in diesem Fall war er erpressbar. Die Bruderschaft bedrohte Anna, sollte er auf ihre Forderungen nicht eingehen. Sie glaubten, in Christophers Geschäften mit England und seinem Schiff die perfekte Tarnung für ihren Opiumschmuggel gefunden zu haben.
Es gab kaum einen Ausweg. Schmuggeln im Auftrag der Geheimgesellschaft der Brüder des Lotus oder sterben. Nur eine Flucht könnte ihn und Anna im Falle einer Weigerung retten. Doch aus Schanghai wegzugehen, reichte nicht aus. Sie müssten China für immer verlassen.
Gedankenverloren trat er ans Fenster und sah hinaus auf die dunklen Straßen der Stadt. Trotz der Abendstunden wuselten Menschen durch die Straßen.
Christopher kannte die Stadt und ihr lebendiges Treiben. Er wusste um die Gewohnheiten der Händler und Bewohner seines Viertels.
Am Ende des Quartiers saß Lixiong, der Schreiber, an seinem Tisch, vor sich Tuschestein, Federn und Papier bereitgelegt, und wartete auf Kundschaft. Neben ihm flatterten Hühner und Enten von Madame Xiu in Holzkäfigen herum, während sie mit schmutziger Schürze, das Küchenbeil vor ihre Füße gelegt, auf einem Hocker kauerte, und döste. Ein Stück weiter die Straße hinunter befand sich der Gemüsehändler, der Christophers Küche täglich belieferte.
All das würde er nie wieder sehen, sollte er China den Rücken kehren.
Einen Moment lang schloss er die Augen. Er war noch nicht bereit dazu, sein China zu verlassen. Genauso wenig, wie er von Anna lassen konnte.
Anna! Plötzlich überkam ihn das unbezähmbare Verlangen nach ihrer Gesellschaft. Wie lange war es her, dass ihn seine Geschäfte von ihr ferngehalten hatten? Es schien ihm wie eine Ewigkeit. Es verlangte ihn schmerzlich danach, dass sie ihre Finger in seine Haut bohrte und ihm den Verstand mit ihren leidenschaftlichen Küssen raubte!
„ Laoye ?“ Long Tian riss ihn aus seinen Gedanken.
„Gehen wir hinunter und sehen, ob die Frauen etwas Essen übrig gelassen haben.“
Anna saß am Kopf der Tafel, dem Platz, der ihr in Abwesenheit des Hausherrn als Oberhaupt des Hauses gebührte. Die Konkubinen saßen an den Längsseiten. Bao stand hinter Anna und übersetzte die Unterhaltung für sie – nach der ersten Verlegenheit plauderten sie durcheinander und amüsierten sich.
Die Konkubinen
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