Tigermilch
Wind aus. Ist irgendwas passiert?
Hast du mit ihr geredet, frage ich.
Nein, sagt Nico, ich glaube, sie hat mich gar nicht gesehen. Aber selbst wenn, sie redet ja nicht mehr mit mir seit der Sache mit Amir. Ist wohl noch sauer auf mich.
Wahrscheinlich.
Wahrscheinlich, sagt Nico und schaut mich an. Du hattest übrigens recht, von wegen einfach zur Polizei zu gehen und so. Ich hätte vorher noch mal mit dir sprechen sollen. Das war nicht in Ordnung. Tut mir echt leid.
Wir reden ein anderes Mal darüber, sage ich, wann hast du Jameelah an der Kurfürsten gesehen?
Weiß nicht, ist noch nicht lange her.
Hast du Guthaben, frage ich.
Nico gibt mir sein Handy. Ich wähle Jameelahs Nummer, aber geht keiner ran.
Scheiße.
Wird schon nichts sein, sagt Nico.
Ich muss los, sage ich.
Ich renne zur U-Bahn und fahre zur Kurfürsten. Als ich aussteige, blitzt und donnert es. Ich renne halb blind über die Kurfürsten, die Frauen stehen unter den Markisen von den Spätis, um nicht nass zu werden, nur Jameelah nicht, sie sitzt auf unserem Stromkasten und lässt den Regen auf sich niederprasseln. In der Hand hält sie eine Müllermilch, Regentropfen landen darin, dicke Tropfen, die von Jameelahs Nase in die Müllermilch kullern. Ich klettere zu ihr auf den Stromkasten. Eine Weile sagt keiner was, wir sitzen einfach nur so da und lassen das Leben vorbeitreiben, 21 nach, das heißt noch 39 Minuten Leben, ich zähle von da aus langsam rückwärts, bis ich bei null angekommen bin, bis es keine Minuten mehr gibt, die einfach so vorbeitreiben können.
Was stand in dem Brief?
Eine Weile sagt Jameelah nichts, ich frage mich, ob sie auch von 39 rückwärts runterzählt, denn ungefähr genauso lange dauert es, bis sie die Müllermilch an den Mund setzt und den Becher in einem Zug austrinkt.
In dem Brief, sagt Jameelah, in dem Brief stand, sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie bereits seit Längerem wissen, ist Gottes Welt verfault, aus diesem Grund können Sie nicht länger hier in Deutschland leben. Packen Sie Ihre Sachen und verpissen Sie sich, dahin, wo Sie hergekommen sind. Mit faulen Grüßen, ihre verfaulte Welt, das ist so ungefähr das, was da drinstand.
Kann doch nicht sein, sage ich, wie kommt das auf einmal?
Meine Mutter war einmal da, seit wir hier in Deutschland sind, sagt Jameelah, sie wollte nur auf die Beerdigung von ihrer Mutter. Das haben die rausbekommen.
Ja und, sage ich, ist doch egal!
Ist nicht egal, sagt Jameelah, holt Mariacron, Maracuja und Milch aus ihrem Rucksack und mixt neu, du darfst nie mehr zurück, wenn du einmal hier bist, sonst musst du für immer dahin zurück.
So ein Schwachsinn, sage ich.
Wir müssen morgen sogar unsere Pässe abgeben, sagt Jameelah.
Wieso das denn?
Damit wir vorher nicht untertauchen. Was denken die sich eigentlich, bin ich Anne Frank oder was?
Untertauchen ist doch gut, wer meintest du, hat das gemacht?
Anne Frank.
Anne Frank, warte mal, ist die bei uns auf der Schule? Den Namen kenne ich.
Mann, das Tagebuch! Das Tagebuch der Anne Frank!
Ach stimmt, sage ich, das haben wir bei der Struck gelesen. Das war echt langweilig. Und die Buchstaben waren so klein.
Das war nur langweilig, weil wir die langweilige Version gelesen haben, es gibt noch eine andere, da schreibt Anne Frank über ihre Muschi und über diesen Peter, in den sie verliebt ist. Ist wirklich gut.
Das will ich auch lesen. Hast du das?
Nein, Lukas hat es mir ausgeliehen, aber du kannst es haben. Lukas sehe ich eh nie wieder.
Jetzt warte doch erst mal ab, sage ich.
Sag mal kapierst du eigentlich gar nichts, schreit Jameelah und springt vom Stromkasten runter, die schieben uns ab! Ich muss hier weg, ich werde keine Deutsche, ich werde nie, nie, niemals Deutsche werden!
Heute habe ich eine Wimper gefunden und mir seit langer Zeit mal wieder was gewünscht. Als Kind habe ich mir immer, wenn ich mir etwas wünschen wollte, eine Wimper ausgerissen. Wieso auf eine warten, die ausfällt, wenn doch so viele an meinen Augen hängen und ich die Wünsche nur runterreißen muss, habe ich gedacht, aber nie ist was davon in Erfüllung gegangen, wahrscheinlich genau deswegen. Ich weiß nicht, wie viele Wimpern ich mir allein dafür ausgerissen habe, um mir immer wieder wünschen zu können, dass Papa wiederkommt. Ich habe alle Wimpern, die rausgerissenen und verlorenen, immer nur dafür benutzt. Ich weiß, das mit Papa, das war ein großer Wunsch, aber auch die kleinen Wünsche sind nie in Erfüllung gegangen,
Weitere Kostenlose Bücher