Tigermilch
dich ein bisschen rum, dann siehst du mal was von der schönen Stadt, den Reichstag und die Friedrichstraße.
Nein, fahr mich einfach hierhin, sage ich und halte Rainer den Zettel mit Amirs Adresse hin.
In diese üble Gegend?
Als ob wir wirklich besser wohnen, sage ich.
Jetzt mach mal einen Punkt, sagt Rainer.
Fahr mich dahin, sage ich, oder ich steige aus und fahre mit der Bahn.
Ist ja schon gut, sagt Rainer und macht das Radio an.
Meine Augen brennen. Ich will nicht weinen, nicht vor Rainer, ich falte den Zettel mit Amirs Adresse klein, kleiner, noch kleiner, ich presse ihn fest zusammen, so fest ich kann, das hilft. Früher, wenn ich mir draußen beim Spielen das Knie aufgeschlagen habe, hat Mama immer gesagt, bist du verheiratet bist, ist es längst wieder heil. Aufgeschlagene Knie und eingeklemmte Daumen heilen vielleicht wieder, sonst aber nichts, gar nichts auf dieser verfaulten Welt heilt. Ich glaube, ich hasse Mama, Papa hasse ich auch, noch viel mehr als Mama, Rainer ist mir egal, und jemand, der einem egal ist, den kann man nicht hassen.
Rainer dreht das Radio lauter. Es läuft Wann reißt der Himmel auf, aber nicht die Version, in der normale Strophen gesungen werden, sondern die, in der immer wieder Leute auf die Frage antworten, was Glück für sie bedeutet, und zwischendurch singt die Sängerin, sie singt, wann reißt der Himmel auf, und dann reden wieder irgendwelche Leute über Glück und was es für sie bedeutet. Sie sagen Sachen wie Glück ist, wenn man frei ist, dass man das Lachen nicht verliert, Spaß am Leben, sie sagen Glück ist, jemanden zu haben, der mich lieb hat, und wenn man sich wünscht, den Moment festhalten zu können.
Was haben Jameelah und ich dieses Lied immer gehasst. Wir haben es gehasst, weil wir es bescheuert fanden, uns an Momente in unserem Leben zu erinnern, die wir gern festgehalten hätten, weil es diese Momente irgendwie nicht gab, zumindest nicht solche wie in dem Lied.
Als wir das erste Mal Tigermilch getrunken haben, das war ein guter Moment, als wir mit der O-Sprache und mit der Kurfürsten angefangen haben, das waren auch gute Momente. Komisch, ich kann mich inzwischen an so vieles aus meiner Kindheit erinnern, aber an Dinge, die vor ein paar Jahren passiert sind, als wir anfingen erwachsen zu werden, kann ich mich kaum erinnern. Das mit der Tigermilch und der Kurfürsten, das waren gute Momente, aber keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen ist, keine Ahnung, wie die Ringelstrümpfe ins Spiel kamen, ich weiß noch nicht mal mehr, wann es ein Spiel wurde oder wer von uns sich die Zutaten für Tigermilch ausgedacht hat. Ich weiß nicht, wann und warum wir angefangen haben, O-Sprache zu sprechen, ich weiß nicht, warum wir ausgerechnet auf die Kurfürsten kamen und auf die Typen da, ich weiß das alles nicht, ich weiß nur, dass wir immer dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein.
Danke an alle Teilnehmer der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung 2012, insbesondere Gunnar Cynybulk für Tigermilchgespräche bei Nacktarsch und Saumagen – fürs Ringmotiv und für die Brotwurst.
Größter Dank an Richard van Korff Schmising für ein großartiges Vorlektorat, fürs immer wieder Hinschauen, fürs Knarfen an den schwachen Stollen, fürs Wolkefinden von Anfang an.
Das Buch
Nini und Jameelah leben in derselben Siedlung, sie sind unzertrennlich und mit ihren vierzehn Jahren eigentlich erwachsen, finden sie. Deswegen kaufen sie sich Ringelstrümpfe, die sie bis zu den Oberschenkeln hochziehen, wenn sie ganz cool und pomade auf die Kurfürsten gehen, um für das Projekt Entjungferung zu üben. Sie mischen Milch, Mariacron und Maracujasaft auf der Schultoilette. Sie nennen das Tigermilch und streifen durch den Sommer, der ihr letzter gemeinsamer sein könnte. Die beiden Freundinnen lassen sich durch die Hitze treiben, sie treffen nicht Tom Sawyer oder Huck Finn, aber hängen mit Nico ab. Nico, der in der ganzen Stadt »Sad« an die Wände malt und Nini ein Gefühl von Zuhause gibt. Sie machen Bahnpartys, rauchen Ott in Telefonzellen und gehen mit Amir ins Schwimmbad. Amir, den sie beschützen wie einen kleinen Bruder. Und dessen großer Bruder Tarik im Dauerstreit mit seiner Schwester liegt, weil diese sich in einen Serben verliebt hat.
Nini und Jameelah erschaffen sich eine Welt mit eigenen Gesetzen, sie überziehen den Staub der Straße mit Glamour, die Innigkeit ihrer
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