Tijuana Blues
haben wollten. Man merkte, dass der Maler versucht hatte, ihnen Farbe und Ausdruck zu verleihen.
Aber Benavides hatte sich mit diesem Provinzerfolg nicht zufrieden gegeben. Stück für Stück hatte er seinen Stil verändert, ihn durch Pop-Art-Elemente à la Andy Warhol und später in den Siebzigern durch den Minimalismus bereichert. So entstanden Landschaften, die andere Landschaften einschließen, wirklich originelle Werke auf der Höhe der Zeit.
Morgado blätterte zu den ersten Seiten zurück. Aus den Fünfzigerjahren waren ungefähr ein Dutzend Porträts aufgelistet. Fast alle stellten ältere oder junge Damen der besseren Gesellschaft dar. Bei vier jedoch waren die Modelle Männer. Rodolfo Madrigal, Juan Tapia, Pedro Solis und Servando Islas. Er fiel fast aus dem Bett. Es war, als ob die Vergangenheit ihn plötzlich ansprang. Er schaute auf die Daten der Bilder. Das von Servando Islas war aus dem Jahr 1955. Dann blickte er auf die Uhr: 2.45 Uhr morgens. Er war versucht, den Maler anzurufen, aber hielt sich zurück. Am besten schlafe ich erst mal eine Runde; ich rufe ihn gleich morgen früh an, sagte er sich. Er legte den Kopf auf das Kissen und schlief sofort ein.
17
Der Maler hatte sofort begeistert zugestimmt, ihn zu empfangen. »Ich wohne direkt hinter der Uni. Ein blaues Eckhaus. Sie können es nicht verfehlen.« Der Taxifahrer des Hotels setzte ihn am Werkstatt-Studio von Rubén García Benavides ab.
»Treten Sie ein, Licenciado Morgado, treten Sie ein!«
Das ganze Haus war ein Museum zeitgenössischer Kunst.
»Kaffee?«, fragte Juanita.
Und noch bevor Morgado antworten konnte, hatte er schon eine Tasse aromatisch duftenden Kaffee in der Hand.
»Ich möchte Ihnen für das Buch danken«, murmelte er. »Ich hatte so viel Arbeit, dass ich mich noch gar nicht gebührend bedanken konnte.«
Der Maler machte heftige Bewegungen mit den Armen, als wollte er all die Höflichkeit und Dankbarkeit von sich abschütteln. »Ja, ja. Hat es Ihnen gefallen?«
Morgado zügelte sein Verlangen, sofort zu dem Thema zu kommen, das ihn brennend interessierte. »Es ist ein beeindruckendes Buch. Es ist Ihr Werk, das es außergewöhnlich macht. Wie haben Sie den Wechsel vom Traditionellen zum Zeitgenössischen in einem Kaff wie diesem geschafft? Und das zu einer Zeit, in der es in dieser Gegend wohl kaum avantgardistische Anreize gab?«
»Indem ich die Museen der Gringos besucht habe. Ich habe Kontakte zu surrealistischen Malern in New Mexico und Arizona aufgenommen. Ich bin immer up-to-date. Ich bin kein kleiner Akademiemaler.«
»Aber Sie haben so angefangen. Ihre Porträts aus den Fünfzigerjahren beweisen das.«
»Für meine ersten Bilder trifft das zu, ja.«
Morgado nahm ein Buch des Malers und schlug die Seite mit dem Porträt von Doktor Servando Islas auf. »Und doch«, sagte er, »unterscheidet sich dieses Bild von den anderen.«
Benavides beugte sich über das Buch, um besser sehen zu können. »In welcher Hinsicht?«
»Die anderen Modelle posieren, sie wirken sehr steif. Dieses hat mehr Ausdruckskraft. Kannten Sie ihn gut?«
»Doktor Islas?«
»Ja.«
»Ein wenig.«
»Aber natürlich kannten wir ihn!«, rief Juanita, die sich neben Morgado gesetzt hatte.
»Er hatte eine große Klinik im Stadtzentrum«, erklärte der Maler.
»Er war in Künstlerkreisen sehr berühmt«, sagte Juanita. »Damals gab es keine Museen, Ausstellungsräume oder Kunstgalerien in Mexicali. Die Leute dachten, Kunst sei, die Venus von Milo zu kopieren oder, noch schlimmer, Stillleben zu malen. Aber Doktor Islas hat uns in seiner Klinik ausstellen lassen. Es war sehr nett von ihm, uns die Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.«
»Es war meine erste Ausstellung«, sagte García Benavides stolz.
»Und auch meine«, sagte Juanita. »Und dabei war ich damals erst vierzehn.«
»Es war ein Mix von Bildern unterschiedlichster Qualität. Von Hobbymalern und Profis«, sagte der Maler.
»Aber war dieser Islas nicht eine Art Intellektueller? Ich glaube nicht, dass er sich nur der Medizin gewidmet hat.«
García Benavides stand auf und holte sich noch Kaffee aus der Küche. Juanita legte ihre Hände auf das Bild des Arztes. »Er war ein Herzensbrecher. Und eines Tages war er verschwunden. 1956. Irgendwann Anfang des Jahres.«
Morgado holte sein Notizbuch heraus und hielt sein Schreibgerät bereit. »Erinnern Sie sich an das genaue Datum?«
Plötzlich sprang Juanita auf, sie war leichenblass und zitterte. »Wer sind Sie?«,
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