Tinnef
Eltern besuchen, was voraussichtlich eine trostlose Angelegenheit werden und darin enden würde, dass ihm seine Mutter vorwarf, ihr auch weiterhin Enkel zu verweigern, oder er konnte seine Schritte in irgendein Etablissement lenken, das Unterhaltungsprogramm bot. Damit würde er effektiv die Zeit totschlagen und sich im Optimalfall sogar noch amüsieren können. Das war fraglos die vernünftigste Alternative. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, wo an diesem Abend das spannendste Programm geboten wurde. Bronstein griff zur nächstbesten Zeitung und begann darin zu blättern.
Doch sein Enthusiasmus verflog rasch. Die Theater hatten samt und sonders nicht viel zu bieten. Im Volkstheater wurde „Weh dem, der lügt“ von Grillparzer aufgeführt. Das war noch der einzige Lichtblick, doch dieses Stück hatte Bronstein bereits in Schultagen nicht sonderlich angesprochen. In der „Urania“ gab es einen kinematographischen Vortrag über die Insel Capri und ihre berühmten Grotten. Nun, dorthin würde er wohl ohnehin nie kommen, vielleicht sollte er sich also wenigstens aus der Ferne ein wenig auf dieses romantische Eiland entführen lassen? Die Entscheidung für südliche Gefilde fiel endgültig, als Bronstein sämtliche Gazetten bis hin zur „Reichspost“ durchgegangen war, ohne auch nur eine einzige andere Veranstaltung gefunden zu haben, die ihn wirklich angesprochen hätte. Also galt es wohl, sich dem Herrn Doktor Meyer anzuvertrauen. Bronstein bezahlte seine Konsumation und begab sich auf den Weg quer durch die Innenstadt zum Donaukanal, wo das mächtige Bauwerk der Volksbildungsbewegung in den Himmel ragte. Er berappte den Eintrittspreis und sah zu, dass er in den Saal kam, denn der Vortrag war bereits eingeläutet worden. Erwartungsvoll setzte er sich in die letzte Reihe auf den ersten Stuhl neben dem Mittelgang und wartete auf den Beginn der Vorführung. Just in diesem Moment hörte er jemanden auf ihn einreden.
„Entschuldigung, gnädiger Herr, ist neben Ihnen noch frei?“ Instinktiv sah sich Bronstein um und musste mit einem gewissen Grad Enttäuschung konstatieren, dass tatsächlich nur noch neben ihm eine Sitzgelegenheit leer geblieben war. Also war es wohl vorbei mit der nötigen Bequemlichkeit, denn er konnte dem lästigen Frager wohl kaum eine abschlägige Antwort geben. Mürrisch drehte er sich also nach der Person um und erstarrte. Ein elfenhaftes Wesen lächelte ihn an, von unglaublicher Anmut und dabei von einer nachgerade unschuldigen Reinheit. Als wäre in seinem Sitz eine Feder geborsten, schnellte Bronstein hoch und verbeugte sich galant. „Aber ich bitte Sie, gnädiges Fräulein“, krächzte er mit belegter Stimme, „nur herein!“
„Verbindlichen Dank, mein Herr“, entgegnete die junge Dame und schickte sich an, den ihr so zugewiesenen Platz aufzusuchen. Bronstein wiederholte seine Verbeugung. „Oberkommissär Dr. Bronstein, zu Ihren Diensten.“
„Angenehm, Johanna Raczek“, gab das Fräulein zurück. Bronstein wagte ein schüchternes Lächeln, das zu seiner großen Freude ansatzweise erwidert wurde. Na bitte, hatte er es doch gewusst. Capri war ein ganz besonders schöner Platz.
Die nächsten zwei Stunden erfuhr er weit mehr, als er jemals über irgendeinen Aspekt der Geographie hätte wissen wollen, und doch sog er all diese Informationen mit einem Gefühl wohliger Behaglichkeit auf, denn immer wenn sein Geist abzuschweifen drohte, schickte er einen schnellen Blick nach rechts, und schon war er wieder auf der Höhe der Zeit. Die an diesem Abend wohl so schnell wie überhaupt noch nie vergangen war, denn ehe er sich’s versah, dankte der Vortragende für die Aufmerksamkeit und entschwand unter Applaus hinter der Bühne. Das Publikum erhob sich, und so tat es auch Bronstein, um sogleich dem Fräulein Raczek behilflich zu sein.
„Wirklich überaus lehrreich. Finden Sie nicht, Herr Oberkommissär?“, sagte sie, als sie sich auf den Ausgang zubewegten.
„Ohne Frage. Faszinierend. Außerordentlich faszinierend.“ Und nach einer kleinen Pause: „Kommen Sie öfter hierher, Fräulein …“
„Raczek. Johanna.“ Natürlich hatte Bronstein den Namen nicht vergessen, er fand nur, es klang weniger aufdringlich, wenn er so tat, als sei er ihm entfallen. „Ja, jeden Montag. Da habe ich meinen freien Abend. Man lernt hier so wunderbar viel, da tut sich jedes Mal eine vollkommen neue Welt auf“, erklärte Raczek strahlend.
„Wie recht Sie haben, Gnädigste“, pflichtete ihr
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