Titan 02
einem Felsblock und starrte in die Luft, als sie zu ihm kamen. Er begrüßte sie weder überrascht noch erfreut. Eine Schar Kinder schichtete dürres Gestrüpp und Dornbuschäste zu einem Haufen.
»Was ist los?« erkundigte sich Raymond mit erzwungener Heiterkeit. »Gibt es ein Fest? Einen Tanz?«
»Vier Männer, zwei Frauen. Sie werden verrückt, sterben. Wir verbrennen sie.«
Mary warf einen Blick auf den Scheiterhaufen. »Ich wußte nicht, daß ihr eure Toten einäschert.«
»Diesmal verbrennen wir sie eben.« Er streckte den Arm aus und berührte Marys glänzendes, goldenes Haar. »Du - sei meine Frau, für eine Weile.«
Mary trat zurück und antwortete mit zittriger Stimme: »Nein, danke. Ich bin mit Raymond verheiratet.«
»Die ganze Zeit?«
»Die ganze Zeit.«
Der Häuptling schüttelte den Kopf. »Ihr seid verrückt. Bald sterbt ihr auch.«
»Warum habt ihr den Kanal zerstört?« fragte Raymond streng. »Zehnmal haben wir ihn repariert; zehnmal kommt ihr Streuner in der Dunkelzeit herunter und reißt die Dämme ein.«
Der Häuptling überlegte. »Der Kanal ist verrückt.«
»Der ist nicht verrückt. Er hilft den Bauern, das Land, ihre Felder zu bewässern.«
»Er geht zu lange in gleiche Richtung.«
»Du meinst, er ist gerade?«
»Gerade? Gerade? Was für ein Wort ist das?«
»Es bedeutet, in einer Richtung.«
Der Häuptling wiegte sich vor und zurück. »Schaut - die Berge. Gerade?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Sonne - gerade?«
»So hör doch…«
»Mein Bein.« Der Häuptling streckte sein linkes Bein vor. Es war knochig, krumm und behaart. »Gerade?«
»Nein«, seufzte Raymond. »Dein Bein ist nicht gerade.«
»Warum wollt ihr dann Kanal gerade machen? Verrückt.« Er lehnte sich zurück. Das Thema war für ihn erledigt. »Weshalb kommt ihr?«
»Nun«, sagte Raymond. »Es sterben immer mehr Streuner. Wir wollen euch helfen.«
»Wieso? Ich sterb nicht, ihr sterbt nicht.«
»Wir wollen nicht, daß Menschen von eurem Volk sterben müssen. Warum lebt ihr nicht in dem neuen Dorf?«
»Streuner werden verrückt dort, springen von Felsen herunter.« Er stand auf. »Kommt, es gibt Essen.«
Mit unterdrückter Abscheu knabberten Raymond und Mary an halbgaren Stücken gebratener Ziege. Ohne irgendwelche Zeremonien wurden vier Tote ins Feuer geworfen. Es stank bestialisch. Einige der Streuner begannen zu tanzen.
Mary stieß Raymond an. »Man kann eine Kultur nach ihren Tänzen beurteilen. Sieh dir das an.«
Raymond sah es sich an. »Es scheint keinerlei Schema zu geben. Einige hopsen ein Stückchen, setzen sich hin; andere rennen im Kreis; ein paar wedeln einfach mit den Armen.«
»Sie sind alle verrückt. Verrückt wie kopflose Hühner«, flüsterte Mary.
Raymond nickte. »Du hast wohl recht.«
Es begann zu regnen. Die rote Sonne Robundus steckte den östlichen Himmel in Brand, fand es aber nicht der Mühe wert, über den Horizont zu steigen. Der Regen wurde zu Hagel. Mary und Raymond suchten in einer Hütte Zuflucht. Mehrere Männer und Frauen kamen ebenfalls herein, und da sie nichts Besseres zu tun hatten, begannen sie sich ziemlich geräuschvoll zu paaren.
»Sie werden es doch nicht vor uns tun!« flüsterte Mary peinlich berührt. »Sie haben wirklich nicht das geringste Schamgefühl!«
»Ich geh nicht in diesen Regen hinaus«, erklärte Raymond grimmig. »Von mir aus können sie tun, was sie wollen.«
Mary stieß einen der Männer zurück, der ihr die Bluse auszuziehen versuchte; überrascht wandte er sich ab. »Wie die Hunde!« keuchte sie.
»Keinerlei Hemmungen«, stellte Raymond müde fest. »Und Hemmungen bewirken Psychosen.«
»Dann leide ich an einer Psychose«, seufzte Mary, »denn ich habe Hemmungen!«
»Ich auch.«
Der Hagel hörte auf; ein eisiger Wind fegte die Wolken über den Paß davon, und in kürzester Zeit war der Himmel klar. Raymond und Mary verließen die Hütte mit Erleichterung.
Der Scheiterhaufen war völlig durchnäßt; vier halbverkohlte Leichen lagen in der Asche; niemand kümmerte sich darum.
Raymond sagte nachdenklich: »Ich habe da so eine vage Idee…«
»Was?«
»Eine mögliche Lösung für das Streunerproblem.«
»Ja?«
»Nun, es ist doch so: Die Streuner sind verrückt, irrational, verantwortungslos.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Der Inspektor wird bald eintreffen. Wir müssen ihm beweisen, daß unsere Kolonie keine Bedrohung für die Eingeborenen - die Streuner - darstellt.« »Wir können die Streuner nicht zwingen, ihren
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