Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod
1. Einleitung
Worum geht es in der Ethik?
Ein achtzehnjähriger Schüler wirft auf dem Bahnsteig eines Berliner U-Bahnhofs einen Mann zu Boden und tritt dem regungslos Daliegenden mehrfach gegen den Kopf. Einige Monate später verurteilt ihn das zuständige Gericht wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe ohne Bewährung. Doch die Anwälte des jungen Mannes legen Revision ein; bis zu deren Entscheidung gewährt das Gericht Haftverschonung. Der Berliner Innensenator kritisiert diese Entscheidung der Justiz scharf; bei der Schwere der Tat könnten viele Menschen eine solche Entscheidung nicht nachvollziehen. Ein katholisches Gymnasium aber erklärt sich bereit, den Schüler in der Zeit der Haftverschonung aufzunehmen; zum Profil christlicher Schulen gehöre auch, schuldig gewordenen Menschen eine neue Chance zu eröffnen.
Warum ist Ethik so umstritten?
Erklären sich diese gegensätzlich klingenden Reaktionen einfach aus den unterschiedlichen Rollen eines Innensenators und einer christlichen Schule? Oder drücken sich darin unterschiedliche ethische Haltungen aus? Hängt die Entscheidung in einer solchen Frage mit der jeweiligen Grundeinstellung anderen Menschen gegenüber zusammen?
Ethik hat es heute, mehr noch als in früheren Zeiten, mit Konflikten zu tun. Doch ihr Verhältnis zu diesen Konflikten hat sich geändert. Ethik verhilft nicht nur zur Orientierung im Konflikt; sie ist vielmehr selbst umstritten. Das gehört zu den wichtigsten Kennzeichen des modernen Pluralismus.
Vor einhundert Jahren konnte ein amerikanischer Richter, Oliver Wendell Holmes jr., den Sinn der Moral noch mit den schlichten Worten umschreiben: «Das Recht, meine Faust zu schwingen, endet dort, wo die Nase des Nächsten anfängt:
The right to swing my fist ends where the other man’s nose begins
.» (Erlinger 2011: 30)[ * ] Heute geht kaum noch jemand von einem vergleichbaren Einverständnis über moralische Regeln aus. Die Vorstellungen, die Menschen von einem richtigen und guten Leben haben, klaffen weit auseinander.
Bis zu welchem Punkt sind solche Unterschiede zu akzeptieren? Hat die Ethik alle Verbindlichkeit verloren, sodass nur ein allgemeiner Relativismus übrig bleibt? Manche halten diesen Relativismus oder gar einen ethischen Nihilismus für unausweichlich (Blackburn 2009: 19ff.). Doch da wir Menschen nicht einzeln auf Inseln leben, sind wir auf ein gewisses Maß an Verständigung angewiesen. In welchen Fragen brauchen wir ein solches Einvernehmen? Und wie kann es erreicht werden? Ethisches Nachdenken ist gefragt.
Ethik ist die Reflexion menschlicher Lebensführung. Unter den drei Grundfragen des Philosophen Immanuel Kant – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – steht die zweite im Zentrum (vgl. Kant 1781/1787: B 832f.). Sie kann jedoch nicht unabhängig von den beiden anderen beantwortet werden. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Tun ist nicht nur von dem Wissen über Handlungsbedingungen und Handlungsfolgen abhängig; sie ist auch abhängig von Handlungsmotiven, die unter anderem durch unsere Hoffnungen geprägt sind. Und schließlich ist sie bezogen auf das Menschenbild, von dem wir uns leiten lassen. Insofern münden die drei Fragen Kants in eine vierte: Was ist der Mensch?
Was bedeutet persönliche Freiheit?
Die Frage «Was soll ich tun?» stellt sich, weil sich die Antwort nicht durch die Instinktsteuerung menschlichen Handelns von selbst ergibt. Der Mensch kann vielmehr zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Doch seine Selbstbestimmung ist an Grenzen gebunden, über die in der Geschichte des Denkens immer wieder gestritten wird. Ginge man von einer vollständigen Determiniertheit des menschlichen Handelns aus, bräuchte man nach der Ethik gar nicht mehr zu fragen. Insofern handelt die Ethik von der Möglichkeit eines Lebens aus Freiheit.
Doch was ist Freiheit? Umfragen darüber, was die Mehrheit der Deutschen unter Freiheit versteht, ergeben Folgendes: Die meisten verstehen unter Freiheit die Sicherheit vor sozialer Not und vergleichbaren Lebensrisiken. Damit verbindet sich der Gedanke, frei sei, wer tun und lassen kann, was er will. Und schließlich gilt ein Mensch dann als frei, wenn er aktiv den Erfolg im Leben sucht, dafür Risiken eingeht und gegebenenfalls auch die Folgen trägt (Petersen 2012: 14f.).
Die wichtigsten ethischen Konsequenzen aus einem solchen Freiheitsverständnis heißen: Der Staat soll die großen
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