Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Schreibtisch liegen. Wenn Sonnenstrahlen darauf fallen, glänzen sie verheißungsvoll.
Es ist seltsam, mit den Zähnen seiner Mutter in der Handtasche durch Berlin zu spazieren. Ohne Frage haben andere Leute noch ganz andere Dinge in ihren Taschen. So genau will ich das gar nicht wissen. Trotzdem. Mir ist nicht ganz wohl dabei, als ich mit diesen fremden Körperteilen in meiner Umhängetasche durch Charlottenburg gehe. Ich will mich lieber nicht erwischen lassen. Auf der anderen Seite: Ich tue nichts Unrechtes. Sie ist tot. Sie hat mir ja praktisch alles bereitgelegt in diesem kleinen Plastiktütchen, ich agiere quasi mit ihrem Segen. Für einen Moment, in dem ich gerade knapp bei Kasse wäre. Oder in noch weiserer Voraussicht der Finanzkrise, in der nicht Geld, sondern Gold Wert behält. Oder auch nur für die Reparatur ihres alten Renault Clio, den sie mir ebenfalls hinterlassen hat und der langsam anfängt, schlappzumachen.
Machen wir uns nichts vor: Zähne mit Gold dran, also Goldzähne nicht im Mund ihres Besitzers, sind Auschwitz und Mauthausen, Bergen-Belsen und Majdanek. Sind sechs Millionen Tote. Ausgenommen und wieder verwertet. Wiekonnte meine Mutter so herzlos sein, mich wissentlich in eine derartige Situation zu bringen? Ich stehe vor dem Juwelierladen. Man muss klingeln, dann wird einem geöffnet. Ein vornehmer Juwelier in Charlottenburg. Im Schaufenster sieht es aus wie im Domschatz zu Aachen. Alles Charlottenburger Zahngold? Das Plastiktütchen brennt in meinen Händen. Nein, unmöglich! Kein Wochenende in einem Wellness-Hotel, obwohl ich gerade jetzt eines gebrauchen könnte, keine Goldkette, der Renault Clio wird nicht repariert, sondern verschrottet. Keine Wiederverwertung jüdischen Zahngoldes! Ich mache mich nicht mitschuldig. Niemals! Die Tür öffnet sich. Die Juweliersgattin, ein großes und schon geringfügig in die Jahre gekommenes Model, schiebt mich mit sanftem, aber entschlossenem Druck in den Laden und parkt mich direkt vor der Theke. Ihr Busen klemmt in einem sehr spitzen BH .
»Zeigen Sie doch mal«, sagt sie. Ich lege meine Faust, ohne sie zu öffnen, auf den Tisch. Das Verbrechen steht mir ins Gesicht geschrieben.
»Se sind doch nicht die Einzije mit so wat und wohl ooch nicht die Letzte.« Sie wird ein bisschen gemütlich. Berlinert enorm für Charlottenburg. Sie muss mindestens aus Spandau sein oder aus Staaken. Ich öffne meine Hand, mit schnellem Griff bringt sie das Tütchen an sich, bevor ich es mir anders überlegen kann.
»Det sind Hauer«, urteilt sie kennerhaft und verschwindet im Hinterzimmer.
Jetzt in Ohnmacht fallen oder wenigstens ganz vom Erdboden verschwinden!
»In eener Woche kommse wieder, jut? Denn is et fertich.«
Ich rühre mich nicht von der Stelle.
»Se jloooben ja nich, wie viel wir davon hier uffn Tisch kriejen. Berlin is voll mit Joldzähne. Se sind ja janz blass! Nicht doch! Zur Information: Schmuck wird det nich! Für ne Joldkette is det Gold nich akkurat jenuch! Det wird erst malallet jetrennt voneinander und jewogen. Und ick zahl Ihnen det dann allet in eener Woche aus, mit’m Tagespreis. Saubere Sache, det is überhaupt nicht schmuddelich. Wird ’n schicket Abendessen draus.«
Ein Abendessen ist so ziemlich das Letzte, woran ich gerade denken kann.
»Wat se dann damit machen, is ja Ihre Sache. Aber wenn ick Ihnen eenen Tipp jebn darf.« Ich nicke reflexartig, diese Berliner Juweliersgattin ist nicht zu bremsen.
»Ham Se Kinder?«
Ich nicke wieder. »Zwei.«
»Zwee? Jut. Sehr jut. Also nehm Se sich det Jold und lassen sich Ihre eijenen Zähne verjolden. Oben und unten gleichermaßen is ne prima Wertanlage. Det untere Gebiss is für den einen, Kleenen, det obere kriecht der andere. Prima Erbanlaje. Können Se sich überall mit hin nehmen. Falls es mal wieder nötich wäre, Jott behüte! Aber weiß man’s? Steckt man nich drin. Heutzutaje is allet unsicher. Aber Jold bleibt Jold!«
Eine Woche später liegt das Zahngeld, 253,– € in bar, in meiner Hand. Ganz normales Geld. Es sieht aus, wie Geld eben aussieht, und ich fühle mich auch nicht wie ein Leichenfledderer. Nicht richtig jedenfalls. Es ist doch eigentlich nur eine Art Recycling. Das Geld wird sofort in die Bar-Mizwa-Feier investiert.
Meine Tante, Teta Jele, ist die Erste, die eintrifft. Sie verschwindet beinahe in ihrem Nerz, so zart ist sie geworden. Sie nimmt Davids Hand und drückt ihm schon am Flughafen die goldene Uhr ihres Vaters, meines Großvaters, in die Hand. Damit
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