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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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Staatsgewalt gehoben worden wären. Ihr Ziel sei es gewesen, die Endlösung möglichst noch vor den Nazis zu vollbringen. Die Ustascha-Miliz hätte Serben, Roma, Juden und Partisanen ermordet. Ich verstand fast nichts, nur so viel: Hier musste bedingungslos geheult werden.
    Im Juni 1964 drehte ich also den ersten Film meines Lebens in den dalmatischen Bergen. Meine Mutter, eine glühende Kommunistin, war begeistert von Inhalt und Form dieses Films. Die Uraufführung fand zu Titos Geburtstag statt, imSommer des darauffolgenden Jahres. Zu diesem Zeitpunkt aber war ich bereits auf der Flucht und konnte nicht zur Premiere kommen.
    Mit 44 Jahren wurde ich Vollwaise. Das ist gar nicht so früh, ich fühle mich seitdem auch nicht speziell anders. Ich würde mich wahrscheinlich niemals selbst so bezeichnen, hätte mich das Erbschaftsamt nicht so angeschrieben. Ich erbte einige Tausend Euro, mit denen ich sofort meine Steuerschuld vom Vorjahr beglich, außerdem einen 26 Jahre alten Mercedes, das Statussymbol meines Vaters, eine Wohnung, die seit 40 Jahren nicht mehr ausgemistet worden war, und ein laufendes Restitutions-Verfahren gegen die kroatische Regierung.
    Vor allem aber rutschte ich in die erste Reihe. Vor mir war niemand mehr, der sich schützend vor mich stellte. Meine Eltern waren einfach gestorben. Alle möglichen Dinge kamen zum Vorschein und tun es noch: Geheimnisse, Neurosen, Müll.
    Ich fahre nicht besonders gut Fahrrad, vor allem nicht, wenn ich mit mir selber rede.
    Ich hasse Geheimnisse. Ich finde, Geheimnisse sind das Allerletzte. Ich verabscheue sie. Abgrundtief. Auf der Liste der unerträglichen Geheimnisse rangieren die Familiengeheimnisse ganz weit oben. Das habe ich schon als Kind gespürt. Kaum etwas ist hartnäckiger als Familiengeheimnisse. Jede Familie hat gleichermaßen viele Geschichten wie Geheimnisse. Die Geschichten muss man sich unentwegt anhören, damit die Geheimnisse im Dunkeln bleiben.
    Zum Beispiel die Geschichte von Titos Brille: Kroatien im Krieg 1944, Marschall Titos Brille ist kaputt. Die Partisanen, angeführt von ihrem Genossen Tito, haben sich in den zerklüfteten Bergen Kroatiens verschanzt, bieten keine Angriffsfläche. Die Ustascha kriegen sie nicht zu fassen. Es sind heikle Momente. Mein Vater repariert Titos Brille. Die Partisanen gewinnen den Kampf. Mein Vater wird zum Helden ernannt und bleibt es fortan.
    Ich steige vom Fahrrad, setze mich an die Theke meines Lieblingscafés und rede übergangslos laut weiter. Man kennt mich dort.
    »Schön«, sagt Frank, der Kellner im Café Savigny, und lächelt mich freundlich an, »und?«
    »Mein Vater ist tot und irgendwie stimmt es vorn und hinten nicht.«
    »Aha«, meint Frank.
    »Ja«, sage ich, »Marschall Tito trug damals nämlich überhaupt gar keine Brille.«
    »Oh! Schade«, meint Frank. Er hat verstanden.
    »Aber mein Vater ist und bleibt ein Held.«
    »Na klar«, tröstet mich Frank.
    »Danke«, stammele ich. Frank ist einiges gewöhnt, ein netter Kerl.
    Keine Sentimentalitäten – einfach aufs Rad, weitertreten.
    Ich quäle mich und mein armes Rad die Straße des 17. Juni entlang. Alles verschwimmt. Tränen laufen mir über die Wangen. Zu Hause angekommen, sehe ich ramponierter aus als mein Rad. Aber das spielt keine Rolle. In Schöneberg sehen alle mitgenommener aus als im taufrischen Prenzlauer Berg.
    Im Briefkasten liegt Post, ein amtlicher Brief mit vielen Briefmarken und Stempeln. Sie wollen einem imponieren, denke ich und überfliege den Inhalt: »In Ihrer Restitutionsangelegenheit bitten wir Sie um Zusendung sämtlicher Sterbeurkunden der betroffenen Personen. Amt für auswärtige Angelegenheiten, Zagreb, Kroatien.«
    Na, die sind ja lustig! Mindestens die Hälfte meiner toten Verwandtschaft haben sie selbst zu verantworten, demnach müssten sie die Sterbeurkunden in ihren Archiven haben.Und aus Auschwitz passable Sterbeurkunden zu bekommen, war noch nie ganz einfach.
    Wut beginnt in mir aufzusteigen: Auch eine Methode, eine Angelegenheit hinauszuzögern, Zeit zu schinden, zu warten, bis alle nicht mehr betroffen, sondern tot sind, bis auch ich mausetot bin! Aber diesen Gefallen, rechtzeitig zu sterben, werde ich ihnen nicht tun!
    Ich starte den Computer, sie werden einen Brief erhalten, der sich gewaschen hat.
    Jedes Mal, wenn ich mich konzentrieren will, kommt einer meiner Söhne. Ich habe zwei. Der Ältere sagt: »Fühl mal, diese Fußballschuhe, Leder – kein Vergleich, was?« Und ich sage: »Nein, kein

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