Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Blümchen. Es riecht nach den Siebzigern, sogar die Seife ist rosé. Was habe ich an diesem trostlosen Sonntag hier verloren? Der »Tatort« im Ersten gibt mir darüber auch keinen Aufschluss. Müde schalte ich den Fernseher aus. Meine Träume passen sich der Tapete an.
Am Morgen scheint die Sonne. Auch sie eher blass und zögerlich – aber immerhin. Alles halb so schlimm, scheint sie zu melden. Ich will zum Friedhof und dann nur noch nach Berlin.
Die Frühstücksdame weint, als sie mich sieht.
»Nicht doch! Nicht schon so früh am Morgen«, sage ich. Sie ringt nach Luft, während sie den Tee bringt. Elena ist aus der Jüdischen Gemeinde und hat mich erkannt. Man hat ihren Vater 74-jährig vor drei Monaten in der Einkaufsstraße erschossen. »Der Mörder war ein Russe. Kein Jude. Ein russischer Mörder«, wiederholt sie. »Ein Idiot ohne Motiv. Heute genau vor drei Monaten.« Noch eins dieser »Jubiläen«. Ich verspreche, einen Stein auf sein Grab zu legen. Gleich, oben auf dem Friedhof.
Seltsam, auf dem Friedhof ist es am schönsten. Die Bäume sind bunt, die Sonne beleuchtet sie perfekt, die Gräber ruhen in sich. Man bekommt Sehnsucht hierzubleiben, sich hinzulegen und auszuruhen. Ich spreche einen Kaddisch für meine Eltern und meine Großmutter, die daneben liegt, und beglückwünsche die drei zu der Ruhe, die sie hier gefunden haben.
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epilog
Vor wenigen Wochen bekam ich Post aus Israel. Ein Anwalt schrieb mir, er habe bei einer Schweizer Bank Geld ausfindig gemacht, das dem in Auschwitz verstorbenen Ludwig Lausch gehört habe. Nach Unterzeichnung aller Unterlagen würde die mir zustehende Summe überwiesen werden. Ich war mir nicht sicher, ob der Anwalt wirklich seriös war. Meine Tante, die den gleichen Brief erhalten hatte, warnte mich in den schrillsten Tönen. Jetzt bekommen meine Tante und ich, nach Abzug aller Anwalts- und sonstigen Kosten, jeweils 3000 Dollar. Es ist nicht viel, was die braven Schweizer herausrücken, aber immerhin. »Liebe Großmutter Hermine«, rief ich in den Himmel, »wer hätte das gedacht?«
Was die Restitution der kroatischen Häuser betrifft, ist noch nicht viel passiert. Aber das Grab von Großvater Sigismund läuft jetzt auf meinen Namen. Nach monatelangem Briefverkehr zwischen mir und den kroatischen Behörden hatte es mir gereicht. Ich schrieb ihnen, dass ich innerhalb von 24 Stunden die deutsche Botschaft in Kroatien, die kroatische Botschaft in Berlin und die gesamte Presse über den Fall informieren würde. Was sie davon nun im Einzelnen beeindruckt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls bekam ich ein Telegramm mit der Zusage, dass das Grab von Sigismund Fuhrmann von nun an auf meinen Namen liefe. Sie hätten das Kreuz entfernt. Und sie beglückwünschten mich. Heuchler!
Meine Schwester hat zu guter Letzt dem Anwalt gekündigtund das Erbe einfach fifty-fifty mit mir geteilt. Aus Erschöpfung wahrscheinlich. Meine Tante hat kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag die Manschettenknöpfe meines Onkels mit den Initialen »G. M. « im Safe gefunden. Sie behauptet allerdings immer noch, das seien nicht die Originale. Raffi und ich sehen uns selten. Er hat eine deutsche Freundin, die ihn sehr in Anspruch nimmt. Aron, Davids Patenonkel, ist gestorben. Die Ärzte sagen, es war Magen-Darm-Krebs. Ich glaube, es waren die Spätfolgen des Holocaust. Er fehlt mir so oder so.
In drei Jahren ist Sammys Bar-Mizwa. Ich beginne bereits, nervös zu werden.
Meine Dibbuks scheinen im Urlaub zu sein, es herrscht eine erstaunliche Ruhe.
Vielleicht ist es auch nur die Ruhe vor dem Sturm?
Wahrscheinlich tanken sie nur Energie, um beim nächsten Einsatz voller Elan zu sein.
Neulich kam Post von Deborah aus New York:
Dear Adriana
I’m still in the clouds from our trip to you. I’m walking around with my memories.
This morning an amazing coincidence occured: My synagoge had a breakfast and my friend’s mother brought with her to the breakfast her new neighbor, his name is something like Dranko. I asked where he is from and he said Jugoslavia. I told our story and my name Altaras and he said he trained in medical school with Adriano Altaras, an urologist. He is also from Zagreb. I’m not sure if this is our Adriano or maybe some other Altaras.
I cannot stop remembering your aunt’s dinner at your house, with the pasta bolognese and the chocolate pudding (and the rabbi eating his fifth portion …).
Kiss her for me and everyone else too. Till we see each other
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