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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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erklärt sie die Bar-Mizwa-Feierlichkeiten für eröffnet. Nach und nach reisen alle an. Abends sitzen sie um den großen Küchentisch bei uns zu Hause und verschlingen die Pasta meiner Tante. Riesige Mengen. Alle sind da. Und mit ihnen sind alle anderen auch da. Meine Eltern, ihre Eltern,die Tanten und Großeltern, Cousins. Die Lebenden und die Toten. Niemand spricht die Sprache des anderen gut, jeder schreit deswegen umso lauter in der Sprache, die er gut beherrscht. Der Rabbiner sitzt mitten in dem Kauderwelsch und isst in aller Ruhe seine vierte Portion Pasta.
    Am nächsten Morgen um 6.30 Uhr, der Countdown läuft, erscheinen David und ich pünktlich in der orthodoxen Synagoge neben dem Einkaufszentrum. Außer dem Rabbiner ist noch niemand da. Er schenkt David nagelneue Gebetsriemen, ein Gebetbuch und mir einen Tee ein, als sei nie etwas vorgefallen. Schlitzohr … Ich werde hinter der Gitterwand platziert und warte. Es sieht nicht danach aus, als würden jemals zehn Beter zusammenkommen – aber ich will nicht unken, Gott ist groß. Nach einer halben Stunde sind es wirklich schon sieben erwachsene Männer. David wird feierlich begrüßt, der Rabbiner legt ihm die Tefillin an.
    Aron kommt auch und legt ganz selbstverständlich einen wunderschönen Gebetsschal auf die Schultern seines Patenkindes. Rituale treffen mich doch immer wieder, ich beginne, vor Rührung zu schniefen. Georg kommt gehetzt an, er hat Sammy zum Schulbus gebracht. Sein Blick sucht mich. Sofort wird er vom Kantor abgefangen, der ihn freundlich, aber bestimmt auf einen Stuhl drängt und ihm einen Gebetsschal umlegt. Georg wehrt sich, aber außer Hebräisch scheint dieser Mann nichts verstehen zu können oder wollen. Er krempelt ihm den linken Ärmel hoch und schnürt den Gebetsriemen um seinen Arm. Georgs Arm sieht aus wie eine italienische Salami, vorwurfsvoll schaut er zu mir herüber. Ich zucke mit den Schultern, das alles ist wirklich nicht meine Schuld. Georg ist der fehlende zehnte Mann für ein vollständiges Minjan. Die rechtgläubigen Beter wissen nicht, dass Georg vieles, aber kein Jude ist. Er scheint innerlich zu kochen, wirkt katholischer denn je, übertreten wäre so ziemlich das Letzte, was ihm vorschwebt. Ich mussleider grinsen, Sohn und Vater, gleichzeitig in Fesseln – das hat was.
    Davids Stimme tritt aus dem Singsang der Männer hervor. Inzwischen sind noch zwei echte Beter eingetroffen. Man singt die wichtigen Gebete.
    Ich könnte beim besten Willen nicht sagen, ob wir in Berlin sind oder in Split, ob der Junge dort vorne David ist oder mein Vater. Sie wiegen sich hin und her, immer wieder legt einer der Männer seinen Arm um David. Die Thora wird aus dem Schrein geholt, man singt weiter.
    Die Synagoge in Split, mein Vater, der die Thora aus dem Feuer holt, die alten Männer … Plötzlich umarmen die Männer David, einer nach dem anderen, jubeln und tanzen. Er hat es geschafft. Er ist einer von ihnen. Sie schütteln ihm die Hand, gratulieren. An diesem Punkt soll ich durch die Schlitze des Gitters Bonbons werfen, aber die Tüte mit den koscheren Bonbons liegt schon im Auto bereit für die Feier in der großen Synagoge am Samstag. So werfe ich einige Ricola-Hustenbonbons durch die Schlitze auf den Kopf meines kleinen Jungen, der jetzt angeblich, nach den paar Gebeten, ein echter Mann geworden ist.
    Ein Blick auf die Uhr: Do früh, 8 Uhr – und David ist ein Mann?
    Die Kippot treffen Freitag früh ein – welch ein Timing! Sie sind derart orange, dass es eine Freude ist. Sie werden mit kleinen Klämmerchen geliefert, um sie auf dem Kopf an den Haaren festzustecken. Eigentlich unnötig, denke ich, die, die wirklich oft in die Synagoge kommen, haben doch gar keine Haare mehr, an denen man eine Kippa feststecken könnte.
    Unser religiöser Terminplan ist straff. Es ist der Vorabend des D-Day. David wird in der Synagoge für die anderen Kinder den Kiddusch sprechen. Noch vor einer Woche stand er selbst zwischen den Kindern und holte sich die Milka-Vollmilchtafel ab. Das ist ab heute vorbei. Er ist unglücklich. Seine Sorgen möchte ich haben …
    Als David dran ist, wird es merklich stiller. Er spricht den Kiddusch, die Dame neben mir stubst mich an: »Ihrer? Macht er gut! Bin gespannt auf morgen. Gid Shabbes.«
    Shabbat schalom, wahrlich, ich bin auch gespannt. David bekommt trotzdem eine Tafel Schokolade und strahlt wie ein Kind, was er auch ist, Rituale hin oder her. Debby aus New York weint, Klara aus Miami tröstet sie.

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