Tochter der Nacht
andere, rauhe, tiefe Stimme fragte: »Prinz Tamino, Ihr seid ein Prinz aus dem Reich des Westens. Könnt Ihr jeden Mann, gleich welcher Herkunft, als Bruder begrüßen, der die Prüfungen bestanden und in die Gemeinschaft unseres Tempels aufgenommen worden ist? Denn hier zählen nicht Geburt, sondern allein Verdienst und Tugend.«
Tamino antwortete nicht sofort. Dann sagte er: »Wenn man mir einen guten Grund dafür nennt, gewiß.«
Schweigen. Schließlich sagte Sarastro: »Gibt es weitere Fragen?« Und wieder herrschte Stille. Sarastro sprach: »Laßt uns fortfahren, wenn alles gesagt ist. Wer von euch will ihn führen?«
»Ich.« Es war die Stimme des alten Priesters, der Tamino im Tempel der Weisheit begrüßt hatte. »Ich werde ihn mit Freuden dem Licht zuführen.«
Sarastro fragte: »Tamino, werdet Ihr Euch seiner Führung überlassen und ihm auf dem Weg durch die Prüfungen gehorchen?«
»Wenn er nicht wieder von mir verlangt, Rätsel zu lösen«, erwiderte Tamino. Leises Lachen hallte von hohen Wänden wider.
»Werdet Ihr ihm blindlings gehorchen?« fragte Sarastro.
Tamino dachte nach und sagte schließlich: »Ich bin nicht sicher. Das klingt wie eine Fangfrage. Und wenn er von mir verlangt, etwas zu tun, von dem ich weiß, daß es falsch ist?«
»Falsch in wessen Augen?« wollte Sarastro wissen. »Wie ich höre, habt Ihr unserem Bruder gesagt, Ihr könntet richtig von falsch unterscheiden. Wie wollt Ihr beurteilen, ob etwas falsch ist, was er von Euch verlangt?«
Tamino biß sich auf die Lippen. »Ich versuche nicht…«, sagte Tamino, »mich als Richter aufzuspielen. Aber wie soll ich wissen, daß er nicht etwas Unrechtes von mir fordert, um mich zu prüfen. Gehorche ich ihm dann, tue ich das Falsche, widersetze ich mich, habe ich mein Wort gebrochen.«
Zu seiner Überraschung hörte Tamino zustimmendes Murmeln und Sarastro sagen: »Gut, ich stelle die Frage anders: Wollt Ihr ihm gehorchen, vorausgesetzt, er verlangt nichts von Euch, was Ihr vor Eurem Gewissen nicht verantworten könnt. Und werdet Ihr Euch auf seinen Rat und sein Urteil verlassen, wenn Ihr unsicher seid?«
»Oh, ja«, sagte Tamino erleichtert, »das will ich gern versprechen.«
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»Dann, Prinz Tamino«, erklärte Sarastro mit seiner tiefen Stimme, »nehme ich Euch als Anwärter für die Prüfungen an, und wenn Ihr sie besteht, werdet Ihr in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Nehmt ihn in Eure Mitte, meine Brü-
der! Wir wollen beten, daß er den Mut und die Kraft für die Prüfungen findet, denen er sich jetzt zu unterziehen hat.«
Tamino hörte wieder das Rascheln der Gewänder und spür-te, wie jemand seine Hände ergriff. Zwei andere Hände seg-neten seine Stirn. Dann berührten ihn andere Hände, als wollten sie ihn heilen oder Segen spenden. Immer neue Hän-de legten sich auf ihn. Dann ertönte eine mächtige Stimme in der Dunkelheit. Sarastro begann zu singen, und die anderen stimmten mit ein:
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Götter des Lichts, ehrfurchtgebietende Mächte der Gnade, Helft einem Menschen auf seinem Pilgerpfade, Der hier vor Euren Pforten steht.
Behütet ihn in dieser dunklen, schweren Zeit, Und geleitet ihn ans Ziel: zur Wahrheit!
Helft ihm, der den Segen der Weisheit erfleht, Gebt, daß er das Recht erstrebt und nicht die Macht.
Zeigt ihm das ewige, strahlende Licht, in der Nacht.
Entzündet in ihm die Flamme der Wahrheit!
Der Gesang endete, und es herrschte einen Augenblick Stille. Dann sagte Sarastro sanft: »Gehe deinen Weg, Tamino!
Dein Mut und deine Weisheit mögen dich begleiten. Du stehst blind und gebunden vor uns zum Zeichen, daß du noch immer in der Dunkelheit der Welt wanderst und das hellere Licht nicht kennst. Dich fesseln nicht äußere Bande, sondern dein eigenes Unwissen. Doch du hast den Wunsch nach wahrer Freiheit geäußert – befreit ihn also von den Fesseln der Unwissenheit.«
Das Band fiel von seinen Händen.
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»Führt ihn hinaus«, sagte Sarastro, »die Prüfung beginnt.«
Jemand nahm Tamino die Binde von den Augen. Es war sehr dunkel. Doch der Widerhall seiner Schritte verriet Tamino, daß er in einem riesigen Gebäude war und Steine unter seinen Füßen hatte. Gedämpfte Laute drangen an sein Ohr. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er Papageno, der ebenfalls eine Binde um die Augen trug und den ein Priester führte.
Der Priester nahm Papageno gerade feierlich die Augenbinde ab und sagte: »Mögen deine Augen das Licht der
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