Tochter der Nacht
war schlank und zierlich, und Tamino glaubte im ersten Augenblick, er habe grüne Haare… nein, grüne Federn auf dem Kopf. Nein, das war auch nicht ganz richtig.
Doch die Haare hatten eine merkwürdige Farbe. Sie waren gelblichgrün und wuchsen ihm wie Schuppen bis zu den Schultern, wodurch sie tatsächlich an Federn erinnerten.
Auch seine Nase hatte etwas von einem Schnabel, zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen stellte Tamino jedoch fest, daß es eine vollkommen normale Nase war, nur etwas spitzer und gebogener als die Nasen, die er kannte.
Sogar die Hände wirkten sonderbar, obwohl der Mann sie recht geschickt benutzte. Gerade hob er sie an die Lippen und blies auf kleinen, aneinandergereihten Pfeifen, mit denen er verblüffend genau einen Vogelruf nachahmte. Dann stieß er lockende Pfiffe aus; ein halbes Dutzend kleiner Vögel kam auf die Lichtung geflogen und pickte etwas auf, was er dorthin gestreut hatte. Der seltsame Mann machte mit seinen seltsamen Händen eine so blitzschnelle Bewegung, daß Tamino sie kaum wahrnahm. Im nächsten Augenblick hielt er vier flatternde und piepsende Vögel zwischen den Fingern.
Er setzte sie in einen geflochtenen Vogelkäfig im Gras am Rande der Lichtung, den Tamino vorher nicht bemerkt hatte, und begann wieder zu pfeifen.
Während Tamino ihn beobachtete, begriff er, was dieses merkwürdige Wesen sein mußte: Es wirkte wie ein Mensch, der teilweise in einen Vogel verwandelt worden war, oder wie ein Vogel mit menschlichen Zügen. Er hatte einen Halbling vor sich.
Wieder ein Halbling. Aber die Halbling-Frau, die er getroffen hatte, war nicht annähernd so menschlich gewesen.
Sie hatte keine Kleider getragen und nicht gesprochen. Dieser Halbling trug eine grobgewebte Tunika mit einem Besatz aus grünen und gelben Federn – Tamino kam das ebenso geschmacklos vor, als wenn er einen Gürtel aus Menschenhaut getragen hätte. Aber vielleicht empfand der Halbling das nicht so, oder er hatte nicht genug Verstand, um es zu begreifen. Vielleicht fand sein Besitzer es auch einfach lustig, einen Vogel-Menschen in Vogelfedern zu kleiden und ihn Vögel fangen zu lassen.
Der erste Halbling, die Otter-Frau, war nicht in der Lage oder nicht bereit gewesen zu sprechen. Doch sie hatte ihm mit einer Geste die Richtung gewiesen, was bedeutete, daß sie zumindest die Sprache der Menschen verstand.
Tamino erhob sich und näherte sich zögernd dem Vogel-Mann, der unbekümmert vor sich hinpfiff, um die Vögel in den Bäumen zu locken.
»Entschuldige, mein Freund…«, setzte Tamino an.
Heftig flatternd und aufgeregt piepsend flogen die Vögel davon, und der Halbling drehte sich um. Überrascht entdeckte er Tamino und sah ihn ärgerlich an.
∗ ∗ ∗
»Sieh nur, was du getan hast. Jetzt sind sie alle davongeflogen«, schimpfte er.
»Was machst du mit ihnen?« fragte Tamino erstaunt und er-freut
darüber, daß dieses seltsame Wesen sprechen konnte.
»Ich fange sie und stecke sie in Käfige, das siehst du doch.
Oder bist du blind?« Er klang verärgert, und Tamino überlegte, ob er sich geirrt hatte. Vielleicht war er doch nur ein normaler Mensch und kein Halbling.
»Warum fängst du die Vögel?«
»Es ist meine Aufgabe. Dafür bekomme ich mein Essen«, erwiderte der Unbekannte. »Ich fange Vögel, und als Gegenlei-stung gibt man mir Kuchen, Wein und süße Früchte. Arbei-test du nichts? Was für ein Nichtstuer bist du denn?«
»Ich bin kein Nichtstuer, sondern ein Reisender«, erwiderte Tamino und ärgerte sich über sich selbst, weil er sich auf solche Belanglosigkeiten einließ. »Wer bist du… ich meine, was bist du?«
»Ein Mann wie du, ein Mann wie jeder andere«, sagte der Vogel-Mensch verdrießlich. »Ich glaube, du mußt doch blind sein. Und was tust du hier? In dieser Gegend sollte es keine Fremden geben. Die Sternenkönigin wird zornig sein, wenn sie es erfährt.«
»Wer ist die Sternenkönigin?«
»Du bist wirklich sehr dumm«, erklärte der Vogel-Mann.
»Weißt du denn überhaupt nichts? Sie herrscht über dieses wilde Land. Wie bist du eigentlich ohne ihre Erlaubnis hierhergekommen? Paß nur auf, vielleicht schickt sie dir einen Drachen auf den Hals oder etwas Ähnliches.«
»Ich glaube, genau das ist geschehen«, sagte Tamino grimmig. »Hast du ihn getötet?«
»Getötet, wen? Ich habe doch nur Spaß gemacht«, erwiderte der merkwürdige kleine Halbling und lachte. »In dieser Gegend gibt es keine Drachen.«
∗ ∗ ∗
»Das dachte ich
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