Tochter des Glueck
Bord gehen.
»Du bist eine Frau vom Land«, sagt er schroff. »Du hast keinen Inlandspass und keine Reisegenehmigung. Du darfst in keine Stadt fahren. Vergiss das mit Shanghai. Geh nach Hause.«
Das werde ich nicht tun. Ich miete eine Rikscha und lasse mich zum Busbahnhof bringen, wo ich wieder nicht durch die Kontrolle am Eingang darf. Mit einer weiteren Rikscha fahre ich zum Bahnhof. Mit dem Zug zu fahren, ist nicht die einfachste oder schnellste Weise, nach Shanghai zu kommen, aber es ist meine letzte Möglichkeit. Auch hier wurde ein Kontrollpunkt eingerichtet, aber ich warte, bis die Wachmänner von einer ganzen hungernden Familie abgelenkt werden, die Unruhe stiftet. Ich schleiche mich an ihnen vorbei. Im Bahnhof heißt es wieder, dass die Züge nur eingeschränkt fahren, doch diesmal habe ich Glück. Ich muss nur drei Stunden auf den Zug warten. Ich kaufe noch heißes Wasser und mische Babynahrung für Samantha. Nachdem ich eingestiegen bin, halte ich mir die Kleine an die Brust, decke sie zu und gebe ihr immer wieder die Flasche. Ich bin noch Stunden von Shanghai entfernt, aber ich fühle mich jetzt schon unglaublich erleichtert. Warum habe ich das bloß nicht schon früher gemacht?
Doch noch bevor wir losfahren, steigen uniformierte Wachmänner in den Wagen und verlangen von jedem die Papiere. Um die Wahrheit zu sagen, man sieht eigentlich sofort, wer nicht im Zug sitzen dürfte. Wir sind diejenigen, die Lumpen tragen, unsere Körper sind unnatürlich aufgebläht, Arme, Beine und Gesichter sind nur Haut auf Knochen. Trotzdem folgen die Wachen den Vorschriften, sie gehen von einem zum anderen und überprüfen Dokumente und Ausweise. Ich sehe mich um. Gibt es irgendwo ein Versteck? Nein. Kann ich irgendetwas tun, um nicht aus dem Zug geworfen zu werden? Vielleicht kann ich Geld anbieten, aber das Risiko ist groß. Ich könnte festgenommen werden.
Der älteste der Wachmänner kommt auf mich zu.
»Bitte«, sage ich und schlage die Decke zurück, damit er Samanthas Gesicht sieht.
»Du bist davongelaufen. Du musst aussteigen«, sagt der Wachmann, nicht ohne Mitleid. »Du musst zurück in dein Dorf.«
Ich ziehe einen Hundert-Dollar-Schein hervor und hoffe, er ist alt genug, das amerikanische Geld zu erkennen. Er schaut, wie nahe die anderen Wachmänner sind.
»Steck das weg, bevor sie dich sehen«, flüstert er. »Außerdem nützt es nichts. Die Behörden wollen nicht, dass jemand erfährt, wie schlimm es auf dem Land zugeht. Selbst wenn ich dich jetzt im Zug lasse, schicken sie dich später zurück. Und diese Wachleute sind dann vielleicht nicht so verständnisvoll.«
Ich fange an zu weinen, als er mich am Ellbogen nimmt und mich zum Ausstieg führt. Nachdem er mir hinunter auf den Bahnsteig geholfen hat, öffnet er einen Beutel, den er um die Schulter trägt, nimmt zwei Weizenteigbällchen heraus und steckt sie zwischen mich und das Baby in die Decke.
»Geh nach Hause«, sagt er. »Das ist das Beste.«
Noch nie war ich so verzweifelt. Ich verlasse den Bahnhof, setze mich auf die Treppe und esse ein halbes Bällchen. Es schmeckt köstlich, und ich habe großen Hunger, aber ich muss vorsichtig sein. Nachdem ich so lange gehungert habe, ist mein Magen geschrumpft. Von all den Ersatzstoffen ist außerdem meine Verdauung ruiniert. Ich weiß nicht, wie viel Nahrung mein Magen bei sich behält oder wie viel mein Darm verkraftet, aber dieses kleine bisschen verleiht mir – körperlich und geistig – schon mehr Kraft, als ich seit Wochen hatte. Ich gehe durch die Gassen und suche nach einem sicheren Platz zum Übernachten.
Am nächsten Morgen fülle ich Sams Flaschen in einem Laden, der heißes Wasser verkauft, wieder auf, füttere sie und esse die andere Hälfte meines ersten Teigbällchens. Ich achte darauf, dass mir kein Krümel verloren geht. Ich überlege, ob ich die Kraft habe, nach Shanghai zu laufen. Unmöglich. Ich habe noch Geld, aber das lässt sich kaum ausgeben. Ich habe nicht die erforderlichen Gutscheine, und ein Laden nach dem anderen, ein Café nach dem anderen weist mich ab. Schließlich gelingt es mir, etwas Mehl aus getrockneten Süßkartoffeln zu kaufen. Wenn ich zurück ins Gründrachendorf komme, will ich es mit Wasser vermischen und kleine Küchlein aus dem Teig braten. Wenn ich das mit meinem Mann und seiner Familie teile, überstehen wir vielleicht noch ein paar Tage mehr.
Auf dem Rückweg ins Gründrachendorf schlafe ich wieder am Straßenrand. Es sind nur drei Nächte vergangen,
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