Der Sohn des Apothekers (German Edition)
Prolog
September
1999, nahe des Steinhuder Meeres
Sie rannte immer tiefer hinein in den Wald, sie rannte und
ihre Lungen schmerzten. Sie rannte um ihr Leben. Sie spürte, dass ihr der
Verfolger dicht auf den Fersen war. Ihre Beine trugen sie voran, über das
feuchte Moos, über herumliegende Äste, durch das niedere Gebüsch, und doch:
Ihre Kraft ließ nach.
Immer noch hatte sie dieses Bild vor Augen … Melis Gesicht
voller Blut. Blutig, weil sie nicht bereit war, sich diesem Ungeheuer zu fügen,
weil sie sich gewehrt hatte, geschrien, gebissen und gekratzt. Dann war dieses
Monster aufgesprungen und hatte wie wild auf sie eingeschlagen. Er hatte sie zu
Boden geschlagen und schließlich zu einem Stein gegriffen. Es war wie ein böser
Traum. Sie war zu keiner Bewegung fähig, nicht fähig, Meli zu helfen. Wie auch,
was hätte sie denn tun sollen.
Dieses Ungeheuer war viel zu stark.
Und dann, dann hatte sich die Paralyse gelöst. Wie eine Katze
war sie aufgesprungen, nur einen Gedanken im Sinn: Weg hier!
Das nahe Gehölz, dorthin wollte sie fliehen, doch ehe sie den
Waldsaum erreichte, sah sie, dass er ihr folgte. Diese grausig entstellte
Fratze, dieses vom Wahnsinn gezeichnete Gesicht. Ein einziger Alptraum, nur dass
dieser Traum einfach nicht enden wollte.
Sie lief, sie hetzte, sie strauchelte, stolperte und stürzte,
raffte sich wieder auf und hastete weiter. Doch als sie an einen Abhang kam,
hielt sie inne. Ihr Herz raste wild und sie rang nach Atem. Ihr Blick blieb an
einem alten Baumstumpf haften. Ein umgestürzter Baumstumpf, darunter eine
Erdkuhle. Sie schwankte auf den Baumrest zu und kroch in die kleine Vertiefung
unter dem Gehölz. Ein gutes Versteck, schoss es ihr durch den Kopf und sie war
überrascht, dass sie überhaupt noch in der Lage war, einen Gedanken zu fassen.
Langsam gewann sie auch die Kontrolle über ihre Lungen zurück. Leise, du musst
leise sein, entspannt atmen, rief sie sich zur Ruhe.
Die Sekunden zogen sich endlos dahin. Angestrengt lauschte sie in
das Halbdunkel der Dämmerung. Noch immer war es hell genug, um die Konturen der
Büsche und Bäume zu erkennen. Er war irgendwo dort draußen und suchte nach ihr.
Die Geräusche seiner Schritte drangen aus weiter Ferne zu ihr herüber. Hatte
sie es geschafft, war sie entkommen, diesem puren Wahnsinn entkommen?
Wenn es nur endlich richtig dunkel würde, dachte sie, und
wiederum wunderte sie sich über den Gedanken. War es früher nicht genau diese
Dunkelheit gewesen, vor der sie immer Angst gehabt hatte? Nun wartete sie
darauf, als brächte Dunkelheit die Erlösung.
Als es laut hinter ihr raschelte, fuhr sie erschrocken zusammen.
Am liebsten hätte sie geschrien, doch sie verbiss sich den verräterischen Laut,
erstickte das Bedürfnis, die Angst laut hinauszubrüllen.
»Ich fang dich, ich krieg dich!«, drang der Ruf dieses Ungeheuers
durch den Wald, als sei dies alles ein Spiel. Sie schloss ihre Augen.
Es raschelte erneut. Diesmal viel näher als zuvor. Sie duckte
sich tiefer und ihre Stirn berührte die kalte Erde. Plötzlich spürte sie einen
stechenden Schmerz.
»Ich hab dich … hab dich … hab dich«, erklang plötzlich diese
unheimliche und irrsinnige Stimme direkt in ihrem Rücken. Ein irres Kichern
folgte. Der Schmerz wurde stärker. An den Haaren zog er sie hervor. »Komm schon«,
flüsterte der Irre in ihr Ohr. Schon warf er sie zu Boden und riss ihr die Hose
herunter. Sie war nicht mehr fähig, sich zu wehren. Erst als sie den Schmerz in
ihrem Unterleib spürte, schlug sie ihre Augen wieder auf und blickte in diese
verzerrte Fratze. Rhythmisch wippte sein Schädel auf und ab, und immer wenn er
sich nach unten neigte, wurde der Schmerz im Unterleib stärker. Sie schloss
ihre Augen und fügte sich in ihr Schicksal. Sein Mund roch modrig und faulig,
und als sie seine schmierigen und schleimigen Lippen auf ihren spürte,
schmeckte sie die Ausdünstungen des Alkohols.
Irgendwann schwanden ihr die Sinne, doch zuvor merkte sie noch,
dass dieses Fratzengesicht nicht der Einzige war, der sich auf sie legte und in
sie eindrang.
Drei Jahre später in Tennweide am Steinhuder Meer
Als Justin Belfort seinen Wagen auf dem weitläufigen
Dorfplatz mitten unter einer riesigen, jahrhundertealten Linde parkte und
ausstieg, spürte er instinktiv, dass hier alles anders war als zu Hause. Er hob
den Kopf in den Wind und witterte. Sogar die Rosensträucher, die den Platz
säumten, verströmten einen anderen Duft, als er es von den drei
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