Tochter des Glueck
mich zu einem Teil des Wandbilds, das Hühner zeigt, die neben Nestern mit fußballgroßen Eiern am Boden picken. Knips. Knips. Nach und nach umrunden wir das Gebäude, bis wir zu der in den Ästen und der Rinde des Baums versteckten Jesusfigur kommen. Knips. Knips.
»Verzeihung, Brigadeführer, könntest du eine Sekunde warten? Ich muss etwas machen.«
Er senkt die Kamera. Ich schäle mich aus meiner Jacke, nehme Sam aus ihrer Schlaufe und halte sie hoch.
»Meine Eltern haben mein Baby noch nicht gesehen«, sage ich. »Bestimmt würden sie gerne ihre Enkeltochter sehen. Das wird die Verbindung zu unserer Kommune noch vertiefen.«
Der Brigadeführer nickt wieder und hält die Kamera hoch.
»Ach, bitte, Brigadeführer, komm doch ein bisschen näher. Ja, noch ein bisschen.«
Ich bin erschöpft vor lauter Angst und Konzentration, aber für die Kamera lächle ich. Ich weiß genau, welche Botschaft diese Aufnahme übermittelt. Samantha und ich verhungern. Wir sind vielleicht nur Tage vom Tod entfernt. Bitte, helft uns, wenn euch das erreicht. Wenn ihr zu spät kommt, habt ihr zumindest eure Enkeltochter gesehen. Falls Brigadeführer Lai den Film nicht abschickt, kann ich nichts mehr tun.
Der Brigadeführer reicht mir die Kamera. Ich folge ihm wieder in die Führungshalle. Er setzt sich an seinen Schreibtisch. Ich bleibe stehen, während ich den Film aus der Kamera nehme. Dann will ich die Rolle in den Umschlag mit meinem Brief und den Hühnerfedern stecken.
»Was ist das?«, fragt er.
»Der Film muss doch in einem Umschlag verschickt werden, oder nicht?«
Der Brigadeführer kneift die Augen zusammen. »Was ist da sonst noch drin? Versuchst du, mit außerhalb zu kommunizieren? Das verstößt gegen die Regeln.«
»Ich kann den Film nicht ohne Brief schicken«, sage ich.
»Du darfst keinen Brief schicken.«
»Na gut.« Ich nehme den Film heraus, stecke ihn mir in die Tasche und wende mich zum Gehen.
»Warte! Was steht in deinem Brief?«
Ich ziehe das Blatt Papier heraus und passe auf, dabei nicht die Federn zu erwischen. Ich reiche ihm den Brief. Rasch überfliegt er die Zeilen mit dem überschwänglichen Lob für Brigadeführer Lai wegen seiner Weitsicht und Führung sowie einer Erklärung, was auf dem Film zu sehen ist. Ich habe geschrieben, dass das Wandbild sicherlich das beste im ganzen Bezirk ist, dass es von Tao und anderen Genossen gemalt wurde und eine Botschaft an die Massen sendet, die im Sinne des Großen Sprungs nach vorn ist. Am Ende habe ich noch hinzugefügt, wir würden jeden Abend Huhn essen und ich hoffte, meine Mutter würde mehr von ihren Süßigkeiten schicken. (Ich habe sie darum gebeten, denn ich weiß, dass der Brigadeführer die schon öfter konfisziert hat.) Doch das sind alles nur Worte. Die eigentliche Botschaft liegt in dem Film und den Hühnerfedern. Als der Brigadeführer fertig gelesen hat, blickt er auf. Ich bin recht zuversichtlich, dass er den Brief abschickt, aber um sicherzugehen, halte ich ihm die Kamera hin.
»Die kannst du behalten«, sage ich.
Er reicht mir den Brief, während ich ihm die Kamera gebe. Den Brief und den Film stecke ich in den Stoffumschlag. Der Brigadeführer sieht zu, wie ich den Umschlag zunähe, und passt auf, dass ich nichts hineinstecke oder herausnehme. Als ich fertig bin, gebe ich ihm den Brief.
»Je früher sie das bekommen, desto früher erhältst du dein Lob«, sage ich, verbeuge mich und gehe rückwärts aus seinem Büro, als wäre ich ein einfaches Dienstmädchen aus der Zeit des Feudalismus.
Ich gehe nach Hause, wühle wieder meine Sachen durch und hole den kleinen Beutel heraus, den mir meine Tante geschenkt hat. Ich lege Sam auf eine der Schlafmatten, ziehe ihr die Schnur des Beutelchens über den Kopf und schiebe sie ihr dann wie einen Gürtel über den aufgetriebenen Bauch, damit sie sich nicht erdrosseln kann. Dann lege ich mich neben sie. Ich weiß nicht, wie schnell mein Päckchen das Dorf verlässt oder was damit passiert, wenn es durch die Hände der Zensoren in Shanghai geht. Wird meine Mutter die Post von mir in ein paar Tagen, in einer Woche oder nie erhalten? Ich habe getan, was ich konnte, aber das Ende naht. Von der Babynahrung ist nur noch ein bisschen übrig. Wenn ich die kleinen Schnipsel von meiner Mutter und meiner Tante abnehme, die ich über das Fenster geklebt habe, und sie auskoche, gewinne ich vielleicht genügend Reispaste daraus, um eine dünne Milch zu machen, mit der ich Sam noch eine Weile am Leben halten
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